»Beeilt Euch, Heilerin«, rief die Kriegerin ihr zu. »Die beiden Fremden haben Inmee, das Mädchen aus dem alten Volk, schwer verletzt. Luovana ist mit ihr im Raum des Lichtes. Aber ich fürchte, sie ist zu schwach, um sie zu retten.«
Antana sah die Kämpferin erschrocken an. »Das fürchte ich auch! Die Geburt der Kleinen hat sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht. Auch der Rubin der Göttin, den Luovana trägt, hat kaum noch heilende Wirkung.«
»Um so schlimmer«, sagte Arma. »Beeilt Euch.«
Antana schluckte. Wenn die Hüterin mit Inmee im Raum des Lichtes war, würde sich niemand um die kleine Brunhild kümmern. Sie schaute zurück zu den schwarzen Bergen. Das ist Lursas Werk, dachte sie. Lursa hatte mit ihren finsteren Zaubern den beiden Männern eingegeben, ausgerechnet an dem Tag zu fliehen, an dem Luovana von der Geburt geschwächt war!
Arma, die ein ausgeprägtes Gespür für Gefahr hatte, zügelte Aysar neben der Heilerin und betrachtete sie genauer.
»Was ist mit Euch? Was schaut Ihr hinauf zu den Bergen, habt Ihr die Männer dort oben gesehen?«
Antana schüttelte den Kopf. »Nein, die Männer sind über den Burgweg gekommen und dann in der Wasserhöhle verschwunden. Es ist noch nicht sehr lange her. Ich habe sie von oben gesehen.« Sie schaute an der Kriegerin vorbei zu Mirka. »Der Jüngere sah so aus, als ob er Schwierigkeiten mit dem Pferd hatte. Jedenfalls ritt er ziemlich waghalsig über die Schlucht hinweg. Zweimal hätte es ihn fast das Leben gekostet, so nahe war er am Abgrund.«
Arma lächelte. »In ihrer Eile haben sie Mirkas Pferd erwischt. Das Tier ist am schwarzen Wasserfall aufgewachsen, es ist nicht gewöhnt, über Feuer zu gehen und von einem Mann geritten zu werden. Es hat überhaupt nie jemand anderes als Mirka getragen.« Sie drehte sich zu ihrer Gefährtin um. »Ich glaube, es wird eine Kleinigkeit, die beiden noch vor dem Paß zu stellen.« Sie musterte Antana noch einmal durchdringend.
»Ihr seht müde aus, Heilerin. Mir scheint, die Geburt der kleinen Brunhild hat Euch mehr zu schaffen gemacht als der Hüterin. Wo seid ihr eigentlich gewesen?«
»Pilze suchen«, erwiderte Antana rasch und wich dem prüfenden Blick der Kriegerin aus. Arma durfte nicht erfahren, woher sie kam, und wenn die Blonde ihren Arm sah, würde man sie wahrscheinlich nicht einmal mehr über den Burgweg zurücklassen. Antana wußte, daß Arma lange genug am schwarzen Wasserfall gelebt hatte, um die Bedeutung dieser Wunden zu erkennen.
»Es ist besser, wenn ich nun nach dem Rechten sehe«, sagte Antana deshalb und war bemüht, den Umhang so fest um sich geschlungen zu halten, daß Arma keinen Verdacht schöpfte.
Die Kriegerin nickte zögernd. »Wir kommen so schnell wie möglich zurück.« Arma trieb die graue Stute an. »Vielleicht schaffen wir es noch vor der Abenddämmerung, die beiden Ritter zurückzubringen.«
Antana nickte und schaute erleichtert zu, wie die beiden Frauen in der nahen Wasserhöhle verschwanden. Ein heiseres Kreischen über ihr schreckte sie auf. Sie hob den Kopf und erkannte Pyros, der zur Flammenburg flog. Antana ließ ihren Korb fallen und vergaß ihren blutigen Arm. Wenn der Adler kam, konnte das nur eines bedeuten!
Sie rannte so rasch sie konnte über die heiße Brücke und eilte mit letzter Kraft zur Burg.
Wenn Luovana bei dem Mädchen im Raum des Lichtes war, dann war die kleine Brunhild in größter Gefahr. Lursa hatte gesagt, daß sie das Leben ihres Sohnes mit dem der kleinen Brunhild verbunden hatte. Wenn Lursa nun oben in ihrer Höhle sterben würde, weil sie das Kind alleine nicht zur Welt bringen konnte, dann würde der Adler versuchen, Luovanas kleine Tochter zu töten.
Als Antana mit beiden Händen das gewaltige Burgtor aufstieß, sah sie flüchtig, daß ihr rechter Unterarm schon ganz dunkel verfärbt war und die Wunden wieder stärker bluteten, doch sie spürte keine Schmerzen. Sie hatte nur einen Gedanken, das Kind zu retten. Im Laufen warf sie ihren Umhang ab und eilte mit wehenden Haaren die Stufen hinauf zum Säulengang. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu Luovanas Gemach. Sie zog den kleinen Dolch aus ihrem Stiefel und warf sich gegen die Tür.
Fassungslos blieb sie stehen und brauchte einen Augenblick, um zu sich zu kommen. Auf Luovanas Bett lag die schreiende Elena und kämpfte mit Pyros, der immer wieder ihre Brust angriff. Es roch nach Blut und Tränen. Antana spürte ein unangenehmes Würgen im Hals.
Die Heilerin erkannte, daß die arme Elena vergeblich kämpfte. Der Adler hatte bereits gesiegt. Das Gewand des Mädchens war zerrissen, ihre nackten Brüste waren blutüberströmt. Wahrscheinlich war sie eingeschlafen, so daß der Greif unbemerkt durch das offene Fenster hereinfliegen konnte. Er hatte erlangt, was er wollte: ein Stück Fleisch aus der Brust einer Frau, um sich verwandeln zu können. Lursa hatte nicht mehr die Kraft, ihm ein Teil ihres Lebens zu geben, so mußte der Adler es sich woanders holen. Doch Lursa mußte das Lied singen, sonst konnte diese Verwandlung nicht gelingen. Antana betete inständig, daß Lursa die Kräfte während des Singens verließen und so diesem finsteren Zauber ein Ende gemacht wurde.
Elena hatte viel Blut verloren. Der Greif war gnadenlos in seinem Kampf. Die Heilerin wußte, daß sie dem Mädchen nicht mehr helfen konnte. So fuhr sie herum und griff, ohne zu überlegen, nach dem kleinen Kind in der Wiege. Solange der Adler mit dem Kampf beschäftigt war, würde es ihr vielleicht gelingen, mit Brunhild den Raum des Lichtes zu erreichen. Dort war die Kleine sicher. Die Heilerin lief mit dem schreienden Bündel im Arm zur Tür, als ein unheimliches Rauschen und Flattern von Flügelschlägen sie innehalten ließ.
Voller Angst warf sie einen Blick über die Schulter zurück und schluckte. Elena war tot. Auf ihrer nackten zerfetzten Brust lag eine Adlerfeder. In Elenas aufgerissenen Augen erkannte Antana noch deutlich die schreckliche Pein. Sie wandte den Blick ab.
Am Kamin stand ein junger schöner Mann, der sie lächelnd ansah. So also sieht Pyros aus, dachte sie. Ihre Angst war augenblicklich verschwunden, denn dieser Mann dort hatte nichts Bedrohliches an sich, im Gegenteil, er wirkte äußerst anziehend.
Seine Augen hatten einen braunen, seidigen Glanz, und sein Lächeln war freundlich. Pyros glich, wie er da am Kamin lehnte, eher einem jungen Gott, so vollendet war seine Gestalt.
Antana versuchte, sich an die Legenden zu erinnern, die sie über den Magier gehört hatte. Er war ein mächtiger Magier, der an Zauberkraft den Gwenyar in nichts nachstand.
Als Lursas und Luovanas Mutter gestorben war, hatten die Priesterinnen Lursa vor die Wahl gestellt. Sie sollte auf den Magier verzichten, um Hüterin des Feuers zu werden, doch sie wollte nur gemeinsam mit ihm dem dunklen Feuer der Göttin dienen. Ihre Liebschaft zu ihm hatte damals allseits Mißfallen in der Burg erregt. So war es schließlich irgendwann zu jenem Kampf gekommen, bei dem die Priesterinnen Pyros vernichten wollten. Doch er war stärker. Lange kämpften sie gegeneinander, bis die Hohepriesterin ihr Leben opferte, um seine Macht soweit zu brechen, daß die anderen Frauen ihn mit ihren heiligen Liedern in einen Adler verwandeln konnten. Lursa hatte entschieden, bei ihm zu bleiben. Sie hatte ihre Rache und ihren Haß den Gwenyar entgegengeschrien und war in die Berge gezogen. Seither lebte sie oben in der Höhle.
Antana war damals zu jung gewesen, um sich an alles genau zu erinnern. Jedenfalls kam es ihr so vor, als sähe sie sein Gesicht zum ersten Mal. Voller Faszination betrachtete sie den menschlichen Pyros. Luovana hatte einmal gesagt, daß Pyros ein so mächtiger Magier war, weil er jeder Frau in der Gestalt erscheinen konnte, der sie in Liebe verfallen würde.
Lursa war ihm verfallen, und auch keine andere Frau würde sich seiner Verzauberung entziehen können. Er fände immer das Bild der Sehnsucht, welches jede Frau in ihrem Herzen trug.
Pyros war nackt, bis auf ein schwarzes Tuch, welches er lose um die Lenden geschlungen hatte. Seine langen dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht und verschleierten seinen Blick ein wenig. Antana fühlte, wie ihre weibliche Neugier erwachte. Auf seiner Brust brannte im rötlichen Licht des Feuers eine tiefe Narbe.