Er zielte diesmal auf das breite Hinterteil von Brunos Fuchs, so daß der Wallach einen verzweifelten Sprung nach vorn machte. Bruno, der sich nur mit den Beinen an dem Fuchs festklammerte, verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Schwert kopfüber in den Schnee. Der Fuchs nutzte die gewonnene Freiheit und galoppierte über das weiße Feld davon.
»Faramund, schnell mein Pferd«, rief Bruno.
Faramund setzte dem Fuchs nach, ohne weiter auf den Raubvogel zu achten. Erst als sein Pferd sich aufbäumte und wiehernd die Vorderbeine in die Luft warf, bemerkte Faramund, daß der Adler sie umkreist hatte.
Bruno sah aus einiger Entfernung die schwere Hinterhand des Braunen in die Höhe wirbeln. Er wollte Faramund warnen, doch es war zu spät. Der junge Gefährte verlor den Halt und landete auf ähnliche Weise im Schnee wie er selbst.
»Wenn ich diesen Teufel erwische, werde ich ihm jede Feder einzeln ausreißen!« rief Faramund aufgebracht, als Bruno näher kam. Zornbebend hatte er die Rechte drohend zur Faust erhoben. »Über dem Feuer sollte man ihn rösten!«
Bruno nickte. »Ja, das wäre die gerechte Strafe für ein derart dreistes Federvieh.«
Beide sahen sie ihren Pferden nach, die der Adler auf die Berge zu trieb.
»Und nun?« Fragend schaute Faramund den Ritter an.
»Ihr wolltet doch ein Abenteuer, edler Ritter«, bemerkte Bruno und klopfte sich umständlich den Schnee aus dem Umhang.
»Aber doch nicht so eines!«
Bruno lächelte. »Wißt Ihr, junger Freund, mit den Abenteuern ist es so eine Sache, sie sind leider nie, wie man sie sich erträumt, und eigentlich sind sie auch erst wirklich richtig schön, wenn man sie hinter sich hat.«
Faramund schnaufte ärgerlich und schaute wieder den fliehenden Pferden nach, die allmählich im Schatten der Berge verschwanden.
»Was tun wir jetzt?« fragte er.
»Zu Fuß gehen!«
Faramund warf einen kurzen Blick auf seine ledernen Stiefel, die von der Feuchtigkeit des Schnees bereits dunkel glänzten. »Ich hasse es zu laufen.«
Weißer Rauch stieg senkrecht aus der Quelle und zerriß an den scharfen Kanten des schwarzen Gesteins zu kleinen Fetzen. Luovana trat auf die Quelle zu und zog ihren Mantel aus. Der warme Dampf strich ihr über die Haut, die angenehm zu prickeln begann. Sie kniete sich nieder und griff mit der Linken nach dem langen Lederriemen, der um ihren Hals hing. Dann zog sie ihn über den Kopf. Der Rubin an dem Band schimmerte matt in dem fahlen Licht. Luovana wickelte das Band geschickt um ihre Hand und ließ den großen roten Stein langsam in dem warmen Dampf baumeln. Aufmerksam beobachtete sie die geheimnisvollen Schwingungen, die den Stein mit dem Rauch verbanden. Jedes Auf und Ab des Rubins war für sie ein Zeichen, daß die Göttin der Gwenyar sich ihrer annahm. Als die Schwingungen nachließen, drehte Luovana ihr Handgelenk, der Lederriemen wickelte sich ab, bis der rote Stein den kochenden Strudel der Quelle erreichte.
Für einen Augenblick verfärbte sich das Wasser blutrot, dann jedoch war es wieder klar. Luovana schloß die Augen, und wie von selbst drangen ihr die alten Worte des Rituals über die Lippen, die sie von den Gwenyar gelernt hatte. Sie mußte lächeln, als sie spürte, wie leicht ihr diese schweren Worte nun in den Sinn kamen. Vor fünf Wintern, als die Priesterinnen ihr den Rubin überreicht hatten, war sie fast daran verzweifelt, so fremd war ihr diese Sprache erschienen.
Mehr und mehr erhob sie ihre Stimme, bis ein geheimnisvoller Gesang daraus entstand. Der Stein wurde von der Quelle gereinigt und mit neuer Kraft versehen. Die Göttin war mit ihr.
Langsam ließ Luovana den Rubin an dem ledernen Band immer tiefer in die Quelle sinken, bis der heiße Dampf ihr unangenehm auf der Haut brannte. Sie spürte, wie der Stein schwerer wurde, wie er zog und zerrte, als wolle er noch weiter hinabsinken. Dann zog Luovana den Rubin aus der Quelle hinaus und prüfte ihn. Er war jetzt strahlend rot. Ein sanfter Glanz lag darüber. Seine Kraft würde für eine Weile anhalten. Sie zog den Mantel über die Schultern und schaute zum oberen Bergkamm, wo sie ihr Pferd zurückgelassen hatte. Aysar, ihre graue Stute, wieherte.
Luovana betrachtete das Tier erstaunt. Es erschien ihr nervös, es tänzelte hin und her und schüttelte den schönen, schmalen Kopf, so daß die lange weiße Mähne wie ein Schleier herumflog.
Mit leichten Schritten kletterte Luovana geschwind über die Steine hinauf zu dem Hochplateau. Sie hielt der Stute die Hand hin und schaute ins Tal. Über das große Schneefeld unterhalb der Anhöhe galoppierten zwei reiterlose Pferde genau auf die Berge zu. Ein großer Adler verfolgte die Tiere und trieb sie zum steilen Paß, der hinauf zum schwarzen Felsenhof führte.
Luovana streichelte beruhigend ihrem Pferd über die Nüstern. »Lursa ist wieder auf der Jagd«, flüsterte sie. »Ihr Adler Pyros hat für diese Jahreszeit reiche Beute gemacht, es sind zwei stattliche Pferde.«
Die Frau griff nach Köcher und Bogen, die an einem nahen Stein lehnten, und schwang sich auf den glatten Rücken der Stute.
»Wo zwei gesattelte Pferde sind, müssen auch zwei Reiter sein«, sagte sie. »Vielleicht können wir das Ende dieser Jagd noch verhindern.«
Faramund stapfte mißmutig durch den Schnee. Die Berge schienen überhaupt nicht näher zu kommen. Gelegentlich warf er einen verzweifelten Blick auf Brunos versteinertes Gesicht, doch der Ritter schritt schweigend einher. Er schien mit den Gedanken weit fort zu sein. Faramund fragte sich oft, was wohl in dem Älteren vorging. Seit dem Turnier in Worms, bei dem Genovefa zu Tode gekommen war, hatte Bruno häufig diesen harten Ausdruck in den Augen. Sein ganzes Wesen schien mehr und mehr von einer unheimlichen Düsternis erfaßt zu werden. Die Trauer schien ihn selbst für ein Abenteuer unempfindlich zu machen, obwohl man ihm derer doch so viele nachsagte. Wie konnte er so gelassen hinnehmen, daß ihm ein Adler sein Pferd stahl?
Am Hofe zu Worms hatte König Dankrat große Stücke auf den Ritter und seine Waffenkünste gehalten. Er ließ es sich nicht nehmen, ihn täglich zu einem Übungskampf zu fordern, allerdings auch, um anschließend mit dem Ritter am Kaminfeuer zu sitzen und von verwegenen Taten zu berichten. König Dankrat war ein großer, kräftiger Mann mit klaren, grauen Augen und einem kurzen roten Bart, der seinem Gesicht etwas Unverwechselbares verlieh. Er war ein Mann voller Tatkraft, und in seiner Jugend war er wie viele andere Ritter auf der Suche nach Heldentaten ausgezogen. Dankrat liebte es, bei einem guten Wein davon zu schwärmen. Jedermann am Hofe wußte, daß der edle Herr von Falkenstein nicht nur ein guter Kämpfer, sondern auch ein guter Zuhörer war. Immer wieder konnte er interessiert einer Geschichte folgen, stellte Fragen und begeisterte sich an einer Heldentat wie der Erzähler selbst. Doch wenn man ihn aufforderte, aus seinem Leben zu berichten, dann lenkte er freundlich das Gespräch in eine andere Richtung, oder er schwieg ganz einfach. Wahrscheinlich rankten sich deshalb um sein Leben die geheimnisvollsten Legenden. Keiner wußte, was genau Bruno von Falkenstein wirklich erlebt hatte, bevor er und Genovefa des Königs Gäste wurden. Von Berta, der Köchin des Hofes, hatte Faramund erfahren, daß der Schwertmeister die schöne Genovefa aus den Händen eines finsteren Ritters befreit hatte. Er war mit ihr durch dunkle Wälder bis nach Worms geflohen. Naß wie die Katzen seien sie vor dem Burgtor angekommen, hatte die Köchin erzählte, denn es hatte die ganze Nacht über geregnet. Und in ihrer Küche hatte der edle Herr mit dem schönen Fräulein gesessen, um sich bei einer heißen Suppe aufzuwärmen.
»Warum berichtet Ihr eigentlich nie von Euren Heldentaten?« fragte Faramund unvermittelt und war selbst erstaunt, daß ihm die Frage, die ihm seit Anbeginn der Reise auf dem Herzen lag, nun so einfach von den Lippen ging.