Arma schüttelte verwirrt den Kopf und warf einen letzten Blick in Luovanas Raum. Wie sehr die Hüterin des Feuers auch beten würde, vorausgesetzt, sie überlebte diese Nacht - der entsetzliche Tod der Frauen und all das Grauen ringsum ließen sich nicht mehr auslöschen. Kein Wunder, daß der Seerosenteich rot gefärbt war. Der Tod hatte reiche Ernte gehalten.
Arma betrachtete das kleine Kind in ihrem Arm. Es hatte sich beruhigt und aufgehört zu weinen. Aus großen, dunklen Augen schaute es der Kriegerin erwartungsvoll entgegen.
»Arme Kleine, du bist an einem dunklen Tag geboren. Die Göttin hat dir kein leichtes Schicksal bestimmt.«
10
»Wacht auf.« Bruno fühlte sich an der Schulter gepackt und schlug die Augen auf. Er erkannte die blonde Kriegerin, sie stand an seinem Bett und rüttelte ihn so heftig, daß es schmerzte.
»Los, beeilt Euch, wir haben nicht viel Zeit.«
Ihre Augen hatten einen fieberhaften Ausdruck, der ihn dunkel an etwas erinnerte. Er versuchte sich zu besinnen. Wo hatte er dieses eilige Drängen schon einmal gespürt?
Bruno schaute die Frau genauer an. Das Gesicht der Kriegerin war fahlgrau, wie die Morgen hier im Norden, und ihre Lippen hatten jede Farbe verloren.
»Was ist geschehen?« Langsam richtete er sich auf, soweit die Wunde an seinem Arm es zuließ.
»Die Hüterin will Euch sehen«, antwortete die Kriegerin bitter. Sie wandte sich zur Tür. »Kommt jetzt!«
»So?« Bruno deutete mit dem Kinn auf seine Hände und seine Füße, die Mirka mit einem Strick zusammengebunden hatte. »Das wird kaum möglich sein.«
Arma zog erstaunt die Brauen hoch und trat zurück an sein Bett. »Mirka hat nichts davon gesagt, daß sie Euch gefesselt hat. Sie ist eine gewissenhafte Frau.« Die Kriegerin befreite den Ritter von den Fesseln.
Der Dolch der Kriegerin beeindruckte Bruno. Er hatte eine goldverzierte Klinge, deren Griff wellenartig geschwungen war, so daß sich die schmalen Finger der Frau genau darumlegen konnten. Eine solch kostbare und feine Arbeit hatte der Schwertmeister noch nie zuvor gesehen.
Arma folgte seinem Blick. »Es ist eine Waffe des alten Volkes. Am schwarzen Wasserfall versteht man sich auf die Herstellung solcher Schätze.« Sie ließ den Dolch wieder in ihren Stiefel gleiten. »Kommt jetzt,« drängte sie und reichte ihm seinen Umhang. »Die Hüterin wartet nicht mehr lange.«
»Aber es ist doch mitten in der Nacht!«
»Gewiß«, zischte Arma. Sie fuhr sich mit den Fingern nervös durch das kurze, blonde Haar.
Der Kampf, dachte Bruno und betrachtete die Frau nun genauer. Natürlich, der Kampf mit Erna in der Wasserhöhle hatte der Kriegerin mehr Kraft geraubt, als sie zugeben wollte. Warum schlief sie nicht? Ein Grund mehr, seinen Besuch bei der Hüterin des Feuers auf den morgigen Tag zu verlegen. Eine reizbare, müde Kämpferin, die dazu noch ihr Schwert an der Seite trug, war eine unberechenbare Begleitung für einen Gefangenen.
Widerwillig folgte Bruno der Kriegerin, die mit raschen Schritten sein Zimmer wieder verlassen hatte, und schaute sich um. Es mußte wirklich tiefe Nacht sein, die Gänge und Räume wirkten wie ausgestorben. Sie gingen an den hohen Säulen vorbei bis vor den Raum des Lichtes.
»Noch eines, Ritter!« Die Kriegerin hielt ihn an dem unverletzten Arm zurück. »Die Hüterin wird die Nacht nicht überleben, also bedenkt Eure Worte. Wenn Euch einfallen sollte, etwas Falsches zu sagen, lebt Ihr keinen Herzschlag länger als sie. Das verspreche ich Euch!«
»Was ist geschehen?« fragte Bruno. Er konnte sich Armas Worte nicht erklären. Wieso würde Luovana die Nacht nicht überleben?
»Die Geburt der kleinen Brunhild hat sie sehr geschwächt, und in diesem Zustand hat sie versucht, das Mädchen, das Euer Freund mit dem Schwert verletzt hat, zu heilen.«
»Nein!« Bruno fühlte einen wilden Schmerz in sich aufsteigen. Plötzlich wußte er, woran ihn Armas Augen erinnert hatten. Er sah im Geiste den Knappen in Worms über den Sandhof laufen. Atemlos und erschöpft war er vor ihm stehengeblieben und hatte ihn an der Hand zum Turnierplatz gezogen. »Sie stirbt, Herr«, hatte er gerufen. »Genovefa stirbt!« Bruno wußte, daß er niemals mehr diesen gehetzten fiebrigen Ausdruck in den Augen des Jungen vergessen würde. Er sah Arma prüfend an. Sie sagte die Wahrheit. Luovana würde sterben.
»Warum?« flüsterte er. Doch noch ehe die Kriegerin antworten konnte, wußte er tief in seinem Inneren die Antwort schon. Es war allein seine Schuld. Er hatte zum zweiten Mal versagt, und nun strafte Gott ihn dafür.
»Die Göttin geht stets ihre eigenen Wege«, sagte Arma, während sie die Tür öffnete. »Vergeßt meine Worte nicht, Ritter!«
Der Raum des Lichtes war fast dunkel. Eine eisige Kälte schlug ihm entgegen. Viele der brennenden Kerzen waren erloschen, die Kristalle an den Wänden wirkten matt und glanzlos. Im Kamin glomm nur ein wenig Glut.
Bruno hielt den Atem an. Das weiße Gesicht von Luovana wirkte klein und zart auf den roten Samtkissen. Er kannte diesen Anblick und verfluchte insgeheim seinen Gott, daß er ihn noch einmal erleben mußte.
»Nun geht schon, sie hat nicht mehr viel Zeit«, drängte Arma und schob ihn unsanft Richtung Kamin.
Langsam ging Bruno durch den Raum. Jetzt, da der Glanz der Lichter schon fast verloschen war, erinnerte dieser Ort ihn an die Schloßkapelle in Worms. Das rötlich dämmrige Licht und diese seltsame Kälte hüllten ihn genauso ein wie damals. Er schaute sich um. Ja, dachte er, genauso hatte die Schloßkapelle in jener Nacht auf ihn gewirkt, als er Genovefas Leiche stahl, um sie den Fluten des Rheines zu übergeben. Man hatte Genovefa nach dem Unglück auf dem Tunierplatz in der Schloßkapelle aufgebahrt, und König Dankrat hatte in der ersten Nacht die Totenwache gehalten. Er bat Gott und Bruno um Vergebung, aber der Ritter wußte, daß sein Herz dem König niemals verzeihen konnte. Dankrat hatte den Speer geworfen, Genovefa starb durch seine Hand. Alle sagten, es sei ein Unfall gewesen. Doch Bruno war sich sicher, daß der König ihm die Liebe zu Genovefa geneidet hatte. In der zweiten Nacht hatte Bruno Genovefa zum Fluß gebracht und war erst beim Morgengrauen in das Schloß zurückgekehrt. Kurz darauf war der Priester herbeigestürzt und hatte dem König von der verschwundenen Leiche berichtet. Alle redeten von einem Wunder, daß die Jungfrau Maria Genovefa geholt habe. Nur die Köchin sprach von einem bösen Omen für den König. »Er hat«, so sagte sie, »unschuldiges Blut vergossen. Gott der Herr wird ihn und die Seinen dafür strafen. Es werden dunkle Zeiten anbrechen. Und der Tod wird grausam sein.«
Bruno kniete sich neben Luovana nieder und griff nach ihrer Hand. Sie war kalt und weiß wie Schnee.
Die Hüterin schlug die Augen auf und lächelte schwach. »Es ist schön, daß Ihr zurückgekehrt seid, mein Ritter«, flüsterte sie. »Ich gehe nun auf eine lange Reise zu den Gärten der Gwenyar und hoffte, Euch zuvor noch einmal zu sehen.«
Bruno drückte ihre Hand. Er fühlte sich elendig. Wie hatte er die Gefühle dieser Frau, die ihn geliebt hatte, so verraten können? Warum war er so kalt zu ihr, wie er es sonst zu keinem Menschen je gewesen war? Ihre Augen hatten ihn nie darüber im unklaren gelassen, was sie für ihn empfand. Tag um Tag, den er gemeinsam mit ihr in dieser Burg verbracht hatte, war er ihr, wann immer es möglich war, aus dem Weg gegangen. Er konnte ihre Augen nicht ertragen, diesen warmen freudigen Ausdruck, wenn sie ihn anlächelte. Er war nicht wirklich ihr Gefangener, er hielt sich selbst gefangen. Die Angst, sich in den dunklen Abgründen ihrer Augen zu verlieren, war um so viel größer als sein Mut.