Ach, wie er diese Wälder rund um Worms liebte!
Bruno atmete tief ein. Es war dumm, dieser entsetzliche Schrei einer Frau hörte nicht auf, in seinem Kopf zu kreisen, wie ein Adler, der auf Beutesuche war. Er wollte, daß es endlich aufhörte, aber wie ein Echo kehrte es immer wieder. Der Adler und der Schrei!
Verrücktes Bild, dachte er, wie kam er ausgerechnet auf einen Adler, der auf Beutesuche war? Wahrscheinlich war es eher ein Bussard, oder es waren die Falken des Königs. Dankrat, richtig, der alte Rotbart war auf Jagd mit den Falken! Wie hatte er das vergessen können?
Nein, es war ein Adler, der da seine Schreie ausstieß. Bruno täuschte sich nicht. Es störte seine Ruhe!
Das Licht war so schön hier. Dieses sanfte Glitzern der Sonnenstrahlen, wenn sie durch die frischen, grünen Blätter fielen, wirkten so verspielt, als würden winzige Elfen mit kleinen Lichtern in der Hand einen fröhlichen Tanz aufführen. Er hätte eine Ewigkeit zuschauen mögen. Es war ein so leichter Tanz!
Der laue Frühlingswind strich ihm sachte über die Haut. Er spürte es genau. Ach, so hätte es bleiben können. Nur dieses Glitzern der Sonne und das frische Grün der Blätter.
Aber da war dieser Schrei! Er hallte immer noch in ihm nach, als hätte er sich in sein Gehirn eingefressen. Woran erinnerte er ihn bloß?
Vielleicht war eine Frau in Gefahr?
Bruno lächelte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Natürlich, das konnte nur Genovefa sein! Er hatte die Leute im Dorf davon reden hören, daß der dunkle Ritter Eberhard von Bronkhorst oben auf seiner Burg, unweit von Worms, ein zartes Weib gefangenhielt, das ihm zu Willen sein mußte. Armes Ding! Und schön sollte sie sein, sagten die Leute, einfach wunderschön!
Bruno verstand es nicht. Es gab doch viele tapfere Ritter rund um Worms. Warum hatte keiner von ihnen Herz genug, das Mädchen aus den Klauen dieses Barbaren zu befreien?
Bruno überlegte. Vielleicht sollte er diesem wilden Schurken einen Besuch abstatten und ihm das Weib abfordern. Aber die Leute im Dorf erzählten die finstersten Geschichten von dem Burgherrn. Jeden Reisenden, so wußte der Schankwirt zu berichten, würde der edle Herr aufs köstlichste bewirten, nur am Morgen, bei der Abreise, würden die Fremden mit Schimpf und Schande zum Tor hinausgeprügelt, daß die Armen oft tagelang nicht mehr sitzen konnten. Was für ein böser Narr war dieser Eberhard von Bronkhorst? Warum ließ er die Reisenden überhaupt ein, wenn ihm ihre Gesellschaft so wenig behagte, daß er sie am anderen Morgen hinausprügelte?
Bruno seufzte. Aber was war schon eine kleine Rauferei gegen die Heldentat, ein schönes Weib aus der Finsternis zu retten?
Entschlossen gab er seinem Fuchswallach die Sporen. Die Burg des Herrn von Bronkhorst lag oberhalb des Rheines. Er würde den Weg durch die Wälder einschlagen, dann konnte er noch an der alten Eiche vorbeireiten. Dieser Baum war sein Lieblingsbaum, als kleiner Junge war er oft dorthin gegangen.
Warum nur kreiste dieser verfluchte Adler durch seinen Kopf?
Es erinnerte ihn an etwas. Warum hatte er es vergessen? Aber wahrscheinlich war es nicht wichtig!
An der alten Eiche würde er sich dann links halten müssen, überlegte er. Die Frau hatte wirklich furchtbar geschrien. Vielleicht sollte er sich beeilen? Dann sollte er wohl besser auf den Weg reiten, der am schnellsten zur Burg des Herrn von Bronkhorst führte.
Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Bruno lauschte. Nein, das war wirklich kein Adler, sondern irgendein Singvogel. Wie kam er bloß immer auf Adler? Jetzt galt es doch ein Frauenherz zu erobern!
Die Leute im Dorf sprachen immer wieder von der Schönheit des Mädchens. Genovefa sei ihr Name, und sie habe goldenes Engelshaar.
»Genovefa.« Bruno flüsterte den Namen in den Frühlingswind. Er summte den Namen immer wieder und war erstaunt, wie leicht er ihm über die Lippen ging. Der Name war ihm vertraut, als hätte er ihn schon hundertmal gerufen. »Genovefa.«
Seltsam, wie konnte ihm dieser Name vertraut sein?
Bruno hielt den Fuchswallach an. Diese Wälder waren einfach ein Genuß. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und atmete dann langsam wieder aus.
Irgendwie hatte ihm das alles gefehlt. Doch welche Narretei kam ihm jetzt schon wieder in den Sinn? Er ließ dem Wallach die Zügel wieder frei. Wie konnten ihm die Wälder fehlen, wenn er sie nie wirklich verlassen hatte?
Es schien am Frühling zu liegen. Ja, daran mochte es liegen. Der Winter war lang gewesen, schier endlos. Aber vielleicht hatte es auch mit dieser Stimme in seinem Kopf zu tun. Bruno horchte. Dem Himmel sei Dank war alles still. Niemand rief mehr seinen Namen. Es hatte ihn vorhin ganz schön durcheinandergebracht, daß ihn jemand gerufen hatte. So etwas war nicht gut.
Bruno hatte nicht den Eindruck, daß es ihm besonders gefiele, gerufen zu werden. So etwas brachte stets nur Ärger.
Vielleicht, so überlegte er, war es aber auch die Stimme eines Engels, die ihn rief? Bruno hatte schon davon gehört, daß es hin und wieder geschah, daß einem Ritter ein Engel erschien, um ihn auf einen besonderen Weg zu senden. Der heilige Gral fiel ihm ein und das Land des Herrn jenseits des Meeres.
Wohl möglich war diese Genovefa ja ein Engel und rief ihn zu Hilfe?
Bruno schüttelte den Kopf. Das war albern. Wieso sollte eine Frau, die von einem polternden alten Ritter gefangengehalten wurde, ein Engel sein? So etwas gab es nicht! Engel konnten nicht von finsteren Rittern überwältigt werden, und Frauen waren keine Engel. Frauen waren sterblich!
Bruno lächelte, und dabei beobachtete er ein gelbes Blatt, das langsam durch die Luft schwebte, immer tiefer, bis es auf dem Boden liegenblieb. Was für eine verrückte Geschichte, dachte er und lachte. Ein Herbstblatt mitten im Frühling. Er schaute sich um. Es war doch Frühling?
Er lachte immer lauter, er konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu lachen, bis ihm die Tränen kamen und ihm brennend über die Wangen liefen. Frauen sind sterblich! Das war das komischste, was er je gehört hatte. Wer hatte es ihm nur gesagt? Er schlug sich mit den Händen so sehr auf die Schenkel, daß der Wallach unter ihm erschrak und einen leichten Satz nach vorn machte. Bruno stieß mit dem Kopf gegen etwas Hartes. Erstaunt rieb er sich die schmerzende Stelle und lachte immer noch. Nein wirklich, eine solche Narretei war nicht zu glauben. Frauen waren sterblich.
Arma streckte sich langsam. Ihre Glieder schmerzten noch immer. Sie fühlte sich, als habe man sie endlos lange in ein tiefes feuchtes Verlies gesperrt, um sie zu foltern. Vorsichtig schlug sie die Augen auf und sah der toten Luovana ins Gesicht.
Sofort war Arma hellwach. Luovana war tot! Es war kein Traum. Der Leib der Hüterin war hart und kalt. Arma schauderte.
»Wie geht es dir?« Mirka stand neben ihr mit einem silbernen Kelch in der Hand. »Hier, das habe ich noch in der Küche gefunden. Es schmeckt nicht besonders gut, hilft aber.«
Arma nippte an dem Becher und verzog das Gesicht. »Was ist das?«
»Alter Wein, er ist ein bißchen sauer, aber er wird dich wieder auf die Beine bringen. Wenigstens für ein paar Stunden.«
Arma leerte den Becher in einem hastigen Zug und schüttelte sich. Eine dunkle Wärme stieg in ihr auf.
»Ein Wunder, daß du noch lebst«, sagte Mirka und nahm ihr den Becher wieder aus der Hand. »Andere hätten den Kampf mit Erna nicht überlebt. In den vergangenen Stunden habe ich ein paar mal gedacht, daß du es nicht schaffst. Dein Körper wurde so kalt wie Luovanas toter Leib. Da half auch keine Decke mehr. Aber die Göttin war dir gnädig.«
Arma schaute an sich herab. Mirka hatte ihr ihren eigenen Wollumhang über den Körper gelegt. »Danke für die Decke.«