»Nein, wenn du die Hüterin bist und die Gwenyar dir den Rubin bringen, dann kann das Feuer dir nichts mehr tun.«
Nachdenklich kaute die Kleine auf ihrer Lippe herum. »Vielleicht werde ich dann doch ein paar von diesen Wörtern lernen.« Sie schaute die Kriegerin voller Ernst an. »Aber nicht heute! Ich will jetzt zurück.«
»Gut, dann lauf schon vor, ich werde noch ein wenig Spazierengehen«, sagte Arma. Sie schaute der Kleinen nach, bis sie in einem der nahen Höhleneingänge verschwand. Wahrscheinlich würde sie sofort zur alten Ramee laufen und sich von ihr eine neue Geschichte erzählen lassen.
Der Göttin sei Dank, wußte die Alte eine Menge Geschichten, und falls ihr wirklich keine mehr einfiel, würde sie eine neue erfinden, nur um Brunhild glücklich zu machen. Das Kind hatte die meisten Leute hier am schwarzen Wasserfall sehr verändert. Es gab nicht viele Kinder im alten Volk, um so kost barer war daher die Anwesenheit eines solch erlesenen Schatzes. Alle liebten die Kleine sehr; sie war hier eine kleine Königin, und Arma hatte alle Hände voll zu tun, daß das Kind nicht zu sehr verwöhnt wurde.
Die Kriegerin wandte sich um und ging über den grünen Hügel zu den nahen Wiesen. Vielleicht würde sie Aysar dort treffen. Als Luovanas Leiche mit dem Schiff zu den Gärten der Gwenyar gereist war, hatte Arma nicht gewollt, daß die Stute sie begleitete. Doch die Priesterin der Gwenyar verbot ihr, ein lebendes Wesen auf das Schiff zu bringen. Arma brachte es nicht über sich, die Stute zu töten, und so hatte sie das Tier freigelassen. Aber das Pferd war nicht fortgelaufen, sondern nah bei den Höhlen des alten Volkes geblieben. Wann immer Arma Zeit fand, besuchte sie die Stute. Die roten Augen des Tieres waren hier, fernab des Feuers, dunkler geworden. Gelegentlich schimmerten sie fast bräunlich, doch sonst hatte das Tier sich nicht verändert.
Als Arma den grünen Hügelkamm erreichte, sah sie Aysar schon von weitem friedlich grasen. Die Kriegerin atmete tief ein. Die Luft war hier nicht so brennend wie in den Feuerbergen. Sie war mild und roch nach frischen Kräutern. Fernab des Feuers war vieles leichter. Die dunkle Schwere, die oft über der Flammenburg gelegen hatte, gab es hier nicht. Hier plätscherte ein Bächlein, wo sich dort brennende Lava durch eine Schlucht fraß.
Das Leben in dem Land der Gwenyar hatte andere Farben. Es war hellgelb wie die Frühlingsblumen, hellblau wie der Himmel, sanftrosa wie die Morgenröte und leuchtend grün wie die Wiesen ringsum. Nichts war blutrot und schwer. Nur die Steine am Wasserfall, über die weiter oben das klare kühle Naß in die Tiefe fiel, waren schwarz. Sie hatten diesem Land den Namen gegeben.
Arma lächelte. Sie liebte diesen friedlichen Anblick der Hügel. Die Harmonie von Tier und Landschaft war ein Bild, das ihrem Herzen immer wieder Ruhe schenkte. Sie hatte Luovana nicht vergessen, aber die Schönheit des Lebens hier ließ sie die Trauer ertragen.
Die Kriegerin schritt durch das hohe grüne Gras und achtete darauf, die Blumen nicht zu zertreten. Rund um den Wasserfall gab es in einiger Entfernung eine Grenzlinie, eine Art magischer Ring, der um das Land des alten Volkes lag. Er sorgte dafür, daß hier mitten im kalten Norden der ewige Frühling blühte. Alles war hier reich und fruchtbar. Das Land war groß genug, daß das alte Volk darin leben konnte, und obwohl es weder Sommer noch Winter gab, wurden alle satt. Mirka sagte, es läge an einem alten Zauberlied, das die Priesterinnen der Gwenyar abends, bei einbrechender Dämmerung im Mondscheintempel sangen. Dieser Zauber war so mächtig, daß selbst das Meer anderen Gesetzen zu gehorchen schien. Die offene See wurde nahe dem Wasserfall niemals rauh und zornig. Keine riesigen Wellen brachen sich an dem weißen Strand, und kein Sturm verirrte sich hierher. Die langen, schmalen Boote der Gwenyar, die häufig zwischen hier und dem Land jenseits des Meeres hin und her reisten, kamen unbeschadet zurück. Die Fischer brachten des Morgens volle Netze Heim, so daß man glauben konnte, das Meer selbst beschütze die aus dem alten Volk besonders.
Arma ging langsam auf die Stute zu. Aysar wieherte leise und ließ sich den Hals geduldig tätscheln. Sie rieb ihre warme Nase in die Hand der Kriegerin und leckte mit der rauhen Zuge über die Innenflächen.
»Du bist ein braves Mädchen«, murmelte Arma, während sie gedankenverloren mit der weißen Mähne des Pferdes spielte. Seit Luovanas Tod mochten jenseits der magischen Linie sechs oder sieben Winter vergangen sein. Seither hatte sie das Tier nicht mehr geritten. Sie hatte überhaupt nur selten Zeit gefunden, auf ein Pferd zu steigen. Die kleine Brunhild nahm sie voll und ganz in Anspruch. Seit sie laufen konnte, war sie ständig auf irgendeiner Entdeckungsreise rund um den Wasserfall, und Arma hatte gelegentlich Mühe, der kleinen flinken Person zu folgen.
Die weiße Mähne der Stute glänzte im warmen Sonnenlicht. Arma fühlte, wie die Erinnerungen an Luovana sie wieder einholten. Brunhild hatte viel von ihrer Mutter. Nicht nur die wilde Lockenmähne, die zwar nicht ganz so rot, dafür aber genauso ungezähmt war. Auch in ihren Bewegungen glich sie Luovana. Aber am unheimlichsten waren Brunhilds Augen. Immer wieder war Arma versucht, in diesen dunklen Abgründen Luovanas Gedanken lesen zu wollen, und immer wieder mußte sie sich daran erinnern, daß nicht wirklich die Hüterin des Feuers vor ihr stand.
Arma vergrub einen Augenblick lang das Gesicht in dem weichfließenden Haar. Sie wußte, daß alleine die Aufgabe, Brunhild zu erziehen, sie daran hinderte, zu den Gärten der Gwenyar zu reisen.
Eine warme Hand legte sich mitfühlend auf ihre Schulter. »Du vermißt sie immer noch sehr, nicht wahr?«
Die Kriegerin fuhr herum. Mirka stand hinter ihr und blickte ihr geradewegs in die Augen. Arma wunderte sich gelegentlich immer noch, wie leise die Gwenyar zu gehen vermochten. Man konnte leicht den Anschein haben, die Leute aus dem alten Volk schwebten eher, als daß sie gingen. Oft genug hatte Arma versucht, genauso geräuschlos zu schleichen, aber es war aussichtslos, ihr fehlte der Zauber dazu.
Mirka trug das Gewand der Priesterin. Schon seit einiger Zeit war sie oft oben am Wasserfall bei den Priesterinnen im Mondscheintempel der Göttin. Sie kam nur noch selten zu den Hügeln herunter.
»Es ist schön, dich zu sehen«, sagte Arma und umarmte die Freundin.
»Du siehst, warum ich nur noch selten komme,« Mirka deutete auf ihr Gewand. »Camire, die Hohepriesterin, hat mit meiner Schulung begonnen. Ich werde nicht mehr viel Zeit für anderes haben. Doch erzähle mir, was es von der kleinen Brunhild Neues gibt.«
»Sie wächst jeden Tag, und sie ist im Steinwerfen unschlagbar für ihr Alter. Sie wird eine gute Kriegerin.«
»Vergiß nicht, ihr das Springen beizubringen. Die Zeichen der Priesterinnen deuten an, daß sie es beherrschen sollte.«
»Was weißt du noch von ihrem Schicksal?« Arma schaute Mirka fragend an.
»Nicht viel, die Zeichen sind noch ungenau.«
»Was bedeutet das?«
»Das Schicksal ist nicht festgelegt, Arma. Es gibt viele verschiedene Schicksalsfäden, und die kleine Brunhild spinnt selbst den Faden, der ihr Weg werden wird. Die Göttin zeigt nur die Pfade, die Brunhild eines Tages gehen kann. Was sie letztlich tun wird, muß sie selbst entscheiden. Aber sie sollte die Wahl haben. Es ist unsere Aufgabe, sie darauf vorzubereiten.«
Arma klopfte der Stute zum Abschied den Hals. »Gleich morgen werde ich damit anfangen, ihr das Springen beizubringen. Und das Reiten.«
Mirka schüttelte den Kopf. »Langsam, Arma. Alles hat seine Zeit bis zu deiner Rückkehr.«
»Bis zu meiner Rückkehr? Was meinst du damit?«
»Camire, die Hohepriesterin, hat bestimmt, daß du jenseits der magischen Grenze einige Zeit mit Aysar auf Jagd gehen wirst. Es nützt nichts, wenn du hierbleibst und nur für das Kind lebst. Dein Leben ist nicht nur für dieses Kind bestimmt. Du bist eine Kriegerin, Arma. Dort draußen werden Frauen mit deinen Fähigkeiten gebraucht. Du mußt wieder reiten, du mußt kämpfen und siegen. Außerdem kann es Aysar nicht schaden, wieder ein bißchen gefordert zu werden.« Mirka tätschelte nun ihrerseits den Pferdehals.