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»Das ist doch egal«, erwiderte der Junge trotzig. Er rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hand. »Fallen bei euch hier am Wasserfall immer alle vom Himmel?«

»Ich bin nicht vom Himmel gefallen, sondern von dem Felsen heruntergesprungen«, sagte Brunhild.

»Ja, genau auf mich!«

»Oh«, rief Brunhild. »Habe ich dir weh getan?«

Der Junge nickte. »Ein bißchen.« Er schüttelte die Hand. »Aber ich glaube, es geht schon wieder. Warum springst du überhaupt mitten in der Nacht vom Felsen?«

»Warum liegst du hier mitten in der Nacht herum? Das tut sonst niemand.«

»Das ist meine Sache, warum ich hier bin«, sagte der Junge entschlossen. Wieder rieb er sich die Hand.

»Gut, wie du meinst, dann ist es meine Sache, warum ich hier heruntergesprungen bin«, erwiderte Brunhild und drehte sich um. Ein Glück, dachte sie, daß es im alten Volk nicht viele Kinder gab. Wenn Kinder immer so gemein waren wie dieser kleine Junge vor ihr, machte es keinen Spaß, sie zu treffen.

Sie schaute vorsichtig hinauf zu der Felsenkante. Dort war alles dunkel. Trotzdem wurde es höchste Zeit, daß sie von hier fortkam. Die Priesterinnen konnten jederzeit aufwachen. Außerdem mochte Mirka zurückkehren, und sie würde sofort wissen, daß Brunhild fort war. Besser sie ging jetzt.

»Halt, du kannst doch nicht einfach so gehen«, flüsterte der Junge erschrocken, als er Brunhilds Absicht durchschaute.

Das Mädchen blickte sich erstaunt um. »Warum nicht? Ich habe es eilig.«

»Wo willst du denn hin?«

»Nach Hause«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Zurück in meine Höhle. Hier gefällt es mir nicht.«

»Wo ist dein Zuhause?«

»Nicht weit von hier, drüben hinter den grünen Hügeln, nahe am Meer. Dort liegt Armas und meine Höhle.« Sie hielt inne. Arma war fort!

»Kann ich mit dir kommen?«

Brunhild machte runde Augen. »Mit mir? Willst du nicht lieber auch nach Hause?«

Der Junge schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, ich gehe nicht mehr nach Hause! Du hast vorhin gesagt, ich sei dein Freund!«

»Aber«, fing Brunhild an, doch sie hielt inne. Der helle Schein einer Laterne am oberen Felsenrand ließ die Kinder zusammenschrecken.

»Verdammt«, flüsterte sie, packte den Jungen kurz entschlossen am Ärmel und zog ihn ins Gebüsch. »Komm hierher.«

»Was ist?«

»Leise.« Sie legte den Finger auf den Mund und deutete auf das Licht über ihnen. »Das war knapp«, sagte sie nach einer Weile, als es wieder ganz dunkel war. »Jetzt sind sie wach, ich muß fort.«

»Wer war das?«

Brunhild verdrehte die Augen. Der Junge stellte wirklich die dümmsten Fragen, die man sich denken konnte. »Die Priesterinnen«, sagte sie und machte ein wichtiges Gesicht. »Wahrscheinlich suchen sie mich.«

»Warum?«

»Weil ich fortgelaufen bin. Ich habe doch schon gesagt, daß es mir hier nicht gefällt.« Sie musterte ihr Gegenüber. »Sag mal, wo kommst du eigentlich her? Es muß von sehr weit her sein, wenn du nicht einmal die Priesterinnen kennst.«

»Unser Haus liegt aber nicht weit von hier. Es steht hinter dem schwarzen Wasserfall.«

»Das ist Unsinn! Hinter dem schwarzen Wasserfall ist nur noch ein einziger Hügel, und da beginnt schon die magische Linie. Dahinter gibt es den Winter, da wohnt niemand mehr«, entgegnete Brunhild und schaute mißmutig drein. Schwindelgeschichten mochte sie nur, wenn die alte Ramee sie erzählte.

»Wir wohnen da«, beharrte der Junge und schmollte wieder. »Was hast du außerdem gegen den Winter? Er bringt Schnee, und alles ist dann ganz weiß.«

»Weiß?« fragte Brunhild ungläubig.

Der Junge nickte. »Ja, weiß. Kennst du keinen Winter?«

»Nein!«

»Auch nicht Eis und Schnee?«

Brunhild verzog angewidert das Gesicht. »Dann ist es doch bitterkalt!«

»Aber man kann tolle Sachen bauen. Ich habe mal einen so großen Turm aus Schnee gebaut.« Der Junge fuhr vor Brunhilds Nase mit den Händen durch die Luft.

Brunhild schaute ihr Gegenüber mißtrauisch an. »Das soll ich dir glauben?«

»Ja«, versicherte der Junge. »Wenn du willst, kann ich es dir zeigen.«

Das Mädchen überlegte. »Wenn ich dir vertrauen soll, dann muß ich wissen, ob du die Wahrheit sagst. Am besten schaue ich mir den Winter sofort an! Laß uns gehen!«

»Warte! Das geht jetzt leider nicht.« Der Junge hielt Brunhild fest und machte ein trauriges Gesicht. »Nicht gleich.«

Brunhild runzelte die Stirn. »Warum nicht? Sagst du mir nicht die Wahrheit?«

»Doch! Aber ich kann nicht zurück, nicht heute nacht. Sie suchen mich bestimmt.«

»Sie suchen dich? Das ist aber eine verflixte Geschichte.«

»Wieso?«

»Wenn die Priesterinnen dich auch suchen?«

Der Junge runzelte die Stirn. »Wieso sollten mich die Priesterinnen suchen? Sie sind doch nicht böse, oder?«

»Nein, aber du sagtest doch, sie suchen dich!«

»Ja, aber doch nicht die Priesterinnen.«

Brunhild überlegte. Die ganze Sache war ihr jetzt viel zu verwickelt. Dafür hatte sie überhaupt keine Zeit.

Der Junge schaute sie flehentlich an und schniefte wieder. »Können wir nicht zu dir in deine Höhle gehen? Dort findet mich bestimmt niemand.«

»Aber mich!« maulte Brunhild, die mittlerweile nachgedacht hatte. »Wenn Mirka wiederkommt und mich nicht findet, wird sie nach mir suchen. Was glaubst du, wo sie zuerst nachschaut?«

»In deiner Höhle?«

Brunhild nickte.

»Verstehe«, sagte der Junge. »Aber wolltest du nicht eben noch dorthin?«

»Nun ja«, sagte das Mädchen gedehnt. »Aber wenn ich es mir genau überlege, ist es vielleicht keine gute Idee.« Sie schaute den Jungen an. »Eigentlich wollte ich nur zurück in meine Höhle. Ich will, daß Arma wieder da ist und daß Ramee mir wieder Geschichten erzählt. Aber das geht alles nicht mehr, sagt Mirka.«

Der Junge seufzte. »Das klingt ganz schön verwirrend.« Er schaute sie an. »Dann sind wir also jetzt Gefährten der Nacht?«

Das Mädchen lächelte. »Das klingt komisch, aber gut.« Sie reichte ihm ihre kleine Hand. »Schlag ein, Gefährte. Ich heiße Brunhild.«

»Und ich bin Raban«, sagte der Junge, als er nach ihrer Hand griff.

»Trotzdem können wir hier nicht bleiben«, stellte Brunhild nach einer Weile fest. Energisch schob sie die vorwitzige Locke zurück, die ihr immer wieder über die Augen fiel. »Sie werden nach mir suchen, und sie können zaubern.« Brunhild machte ein geheimnisvolles Gesicht.

»Mein Vater wird auch nach mir suchen, und er kann auch zaubern!« sagte Raban. Trotz der Dunkelheit bemerkte das Mädchen einen finsteren Schatten, der sich über die Augen ihres neuen Freundes legte.

»Magst du es nicht, wenn er zaubert?«

»Nein«, sagte Raban.

»Gebraucht er dazu auch so schwere Wörter, bei denen man sich die Zunge verdreht?«

»Nein.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Mein Vater redet nie beim Zaubern. Er macht es einfach so.« Raban vollführte eine drehende Handbewegung und hielt inne. »Ja, ich glaube, das ist alles, was er macht.«

Brunhild riß staunend die Augen auf. Mit ihren kleinen Händen versuchte sie, die Bewegung nachzuahmen. »Und das klappt?«

Raban schaute auf den Boden. »Ja, leider. Er schreit oft die ganze Nacht, wenn er gezaubert hat. Er läßt Blitze über den Himmel zucken, oder er läßt es donnern. Manchmal weht sogar ein mächtiger Sturm, daß man glaubt, das Haus bricht zusammen. Dann rennt mein Vater draußen herum und schreit, daß einem die Ohren weh tun.«

»Ach«, rief Brunhild traurig. Sie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Diese Art von Zauber kannten die Gwenyar nicht. Zwar tanzten sie gelegentlich, manchmal sogar im Regen, wenn es überhaupt einmal regnete. Aber es machte ihr keine Angst, und schreien würden die Gwenyar niemals.