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»Manchmal glaube ich, er hat Schmerzen im Kopf«, sagte Raban. »Denn er kneift ganz oft die Augen fest zusammen. Siehst du, so!« Der Junge zeigte Brunhild, was er meinte. »Und manchmal flucht er bis zum Morgengrauen. Dann schimpft er auf die Göttin und...« Der Junge biß sich auf die Lippen.

»Und?« Brunhild hielt den Atem an. Vorsichtig griff sie wieder nach der Hand des Freundes. Daß jemand auf die Göttin schimpfte, hatte sie noch nie gehört.

Der Junge schniefte kurz. Eine Träne rollte ihm über die Wangen. »Dann habe ich große Angst vor ihm.«

»Du hast Angst vor deinem Vater?« Das war ungeheuerlich! Brunhild wußte nicht recht, was ein Vater eigentlich war. Aber sie dachte, daß Jungen vielleicht von Männern unterrichtet wurden, so wie sie von Arma. Brunhild versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn sie vor Arma hätte Angst haben müssen. Ein gruseliger Gedanke. Sooft hatte sie sich nachts neben ihre Lehrmeisterin gekuschelt, hatte sich unter ihre Decke geschlichen und sich an den warmen Körper der Frau angelehnt. Arma hatte sie dabei stets in den Arm genommen, hatte sie liebevoll getröstet, wenn sie geweint hatte und ihr so viele schöne Dinge gezeigt. Nein, Brunhild konnte es sich nicht vorstellen, vor dieser Frau Angst zu haben. Das war zu schrecklich. Vorsichtig drückte sie Rabans Hand. Der Freund schien ein schweres Schicksal zu haben.

»Er hat böse Augen«, flüsterte der Junge. »Manchmal sieht er so wild aus, als ob er mich auffressen wollte! Aber dann geht er immer zu Antana und trinkt das Blut aus ihrer Brust.«

Brunhild schüttelte angewidert den Kopf. »Er trinkt Blut?«

»Ja, machen das die Großen bei euch nicht?«

Das Mädchen dachte einen Augenblick nach. »Nein, das habe ich noch nie gesehen!«

Zum ersten Mal in ihrem Leben wußte sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Was Raban erzählte, war wirklich keine schöne Geschichte!

Sie fuhr mit den Händen in eine kleine Tasche, die an ihrem Gürtel hing. »Hier nimm!« Sie hielt dem Jungen einen schwarz glänzenden Stein hin. »Damit du nicht mehr traurig bist. Der Stein soll dir Glück bringen.«

Raban nahm den Stein vorsichtig in seine Hände. Lange schaute er ihn an. »Woher hast du ihn?«

»Ritter Faramund hat ihn mir geschenkt. Er hat gesagt, es sei ein geheimer Schatz, den er vor langer Zeit gefunden hat.«

»Wer ist Ritter Faramund?«

»Ritter Faramund und sein Freund Ritter Bruno sind zwei Männer, die nicht von hier sind. Sie kommen aus einem fernen Land.« Brunhild machte eine große Geste mit ihren Armen, um zu zeigen, von wie weit her die Männer wohl kamen. »Arma sagt, Ritter Bruno ist schwer krank, deshalb sind sie bei uns. Sie leben hier schon lange. Sie können nicht zaubern, aber manchmal erzählt Ritter Faramund lustige Geschichten.« Brunhild überlegte eine Weile. »Nur Ritter Bruno sagt nie etwas. Er schaut meistens auf das Meer hinaus. Manchmal gehe ich ihn besuchen, wenn er in seiner Höhle ist, aber er sagt nichts.«

»Das ist ein schöner Stein«, meinte Raban und fuhr mit den Händen über die glatte Fläche. Sie war warm und glänzte in dem sanften Mondlicht. Schnell steckte der Junge den Schatz in seine Hosentasche, bevor Brunhild es sich wieder anders überlegen konnte.

Brunhild lächelte. »Wenn du nicht mehr traurig bist, dann gehen wir fort. Jetzt gleich!« sagte sie entschlossen und stand auf. »Wir werden Arma suchen. Sie wird uns beiden helfen. Sie ist eine gute Frau.« Brunhild schaute sich vorsichtig um. »Mir ist etwas eingefallen. Heute nacht werden wir zwischen den Felsen weiter unten am Meer schlafen. Dort gibt es eine kleine Bucht, die Arma mir einmal gezeigt hat, als ich sehr traurig war. In der Bucht werden wir uns bis morgen verstecken, und dann holen wir uns ein Pferd von den Gwenyar. Wir müssen Arma finden!«

»Ein Pferd? Kannst du denn reiten?« Verlegen schaute Brunhild weg. Unmerklich schüttelte sie den Kopf. »Arma wollte es mir später beibringen.«

Insgeheim ärgerte sie sich, daß sie das Zauberwort wieder vergessen hatte, von dem die Priesterin unlängst gesprochen hatte. Mit diesem Wort ließen sich nämlich die Pferde der Gwenyar reiten, als sei man eins mit ihnen, als könne das Pferd die Gedanken des Reiters erraten.

»Sollen wir dann nicht besser zu Fuß gehen?«

»Unsinn. Mitten durch den Winter? Nach allem was ich gehört habe, muß er schrecklich sein, weil man immerzu kalte Füße hat. Ich mag keine kalten Füße.« Entschlossen wippte sie mit den Fingern wieder eine Locke nach hinten. Ihre dunklen Augen funkelten aufgeregt. »Komm jetzt. Wenn sie uns hier finden, ist alles umsonst gewesen.« Sie zog den Jungen hoch, und Hand in Hand verschwanden sie in der Dunkelheit.

14

Langsam wanderte Mirka im Mondschein über die Hügel. Sie lenkte ihre Schritte hinunter zum Meer. Ein leichter Wind wehte von der See herüber, und es roch angenehm nach Fisch und Salz. Mirka hatte die kleine Brunhild vor einiger Zeit ins Bett gebracht und war dann zu ihrem abendlichen Spaziergang aufgebrochen. Ihre Hände spielten gedankenverloren mit dem Rubin, den sie seit Luovanas Tod trug. Brunhild würde diesen Stein am Tage ihrer Ernennung zur Hüterin des Feuers von den Gwenyar bekommen, aber bis dahin, so hatte die Hohepriesterin verfügt, sollte Mirka den Rubin tragen.

Der weiche Sand gab unter Mirkas Füßen nach. Er war noch warm vom Sonnenlicht des Tages. Von dieser Stelle aus wurden die Schiffe der Gwenyar zu der Insel mit den Gärten gesandt. Auch Luovanas Schiff war von hier aus auf die See hinausgetragen worden, Blumen waren über dem Boot verstreut und die Segel waren aus weißem, schwarzem und rotem Tuch gewesen. Mirka erinnerte sich ungern an diesen traurigen Tag. Als die Priesterinnen das Boot zu Wasser ließen, hatte Arma fürchterlich geschrien. Sie hatte verzweifelt immer wieder nach Luovana gerufen und sich in die Fluten gestürzt. Wie von Sinnen war sie dem Boot noch eine Weile nachgeschwommen. Mirka hatte schon Sorge gehabt, daß die Kriegerin diesen Tag nicht überlebte. Lange hatte sie damals am Strand gewartet, bis Arma zurück an Land kam. Niemals würde sie den leeren Blick vergessen, mit dem Arma ihr bei Sonnenuntergang entgegengekommen war.

»Jetzt werde ich mich um meine Tochter Brunhild kümmern«, hatte sie gesagt und war zur Höhle gegangen, in der das kleine Mädchen schlief.

Mirka seufzte. Luovanas Abreise zu den Gärten war nicht wie sonst, wenn einer von ihnen ging, ein Fest der Freude gewesen. Die Hüterin des Feuers war vor ihrer Zeit gegangen, das machte die Geschichte so traurig.

Mirka schaute hinauf zu den Felsenklippen, die zwischen den grünen Hügeln und dem Meer lagen. Der Mond schien nun klarer, er hatte die Wolken hinter sich gelassen. Sein silbernes Licht spiegelte sich in den Wellen.

Etwas hatte sich dort oben zwischen den Steinen bewegt.

Reglos blieb Mirka stehen und suchte mit den Augen die Felsen ab.

Dann sah sie ihn. Ein Mann stand zwischen den grauen Steinen und schaute auf das Meer hinaus. Was tat er da? Der Mann war nicht aus dem alten Volk, sonst hätte Mirka ihn kaum entdecken können. Ihm fehlten die Fähigkeiten, sich zu verbergen. Außerdem war ein großer Teil der Männer des alten Volkes mit den Schiffen unterwegs. Wenn die Boote jedoch für eine Weile hier am Wasserfall anlegten, feierte das ganze Volk ein großes Fest. Dann tanzte Camire, die Hohepriesterin, vor dem Tempel den Tanz des Frühlings.

Mirka mochte ihre Gesellschaft gern. Es waren schöne Männer. Sie waren freie, stolze Streiter der Göttin. In ihren klaren Augen konnte man mühelos die Gesinnungen ihres Herzens lesen. Ein jeder von ihnen war ein Meister mit Pfeil und Bogen. Manchmal bedauerte Mirka, daß sie nicht häufiger hier waren.