Sie betrachtete wieder den Fremden, der oben an dem Felsen lehnte. Es war ausgeschlossen, daß er einer aus dem alten Volk war. Aber wer, überlegte Mirka, betrat sonst den heiligen Ring der Göttin, ohne eingeladen zu sein?
Ein kalter Wind kam auf, und dunkle Wolken zogen drohend vom Meer auf sie zu. Mirka warf wieder einen Blick auf den Mann. Sie musterte ihn durchdringend, dann plötzlich erkannte sie ihn. Es war Pyros. Er war also tatsächlich gekommen. Sie hatte schon damals, kurz nach Luovanas Tod, mit ihm gerechnet. Camire, die Hohepriesterin, hatte sogar kurzzeitig den Tempel bewachen lassen, aber als sich nichts rührte, war das Leben im Tal der Göttin wieder seinen normalen Weg gegangen.
Daß Pyros eines Tages kommen würde, mit der Absicht, seinen Vater zu befreien und die Gwenyar zu vernichten, war allen klar, aber es konnte schließlich Ewigkeiten dauern. Es hatte auch fast Ewigkeiten gedauert! Draußen jenseits des heiligen Ringes waren sieben Winter vergangen.
Einen Augenblick lang fragte Mirka sich, warum Pyros sie nicht bemerkte. Er hatte zwar nicht die gleichen Fähigkeiten wie ein Mann aus dem alten Volk, aber er war ein mächtiger Magier. Wieso sah er sie nicht? Wieso hatte er überhaupt zugelassen, daß sie ihn bemerkte. Offenbar war er sich seines Sieges sehr sicher?
Mirka schaute zurück. Weit hinter ihr auf dem hohen Hügel lag der Mondscheintempel. Dort schlief die kleine Brunhild. Wenn Pyros zu zaubern anfing, würde sie die anderen Priesterinnen im Tempel nicht rechtzeitig warnen können.
Fieberhaft überlegte sie, was sie tun könnte. Der Wind wurde immer stärker. Ihre eigenen Zauberkräfte waren nicht stark genug, um es mit dem Magier auf ein Duell ankommen zu lassen. Ein dunkles, rotes Schimmern legte sich um die Gestalt des Mannes. Dann zuckte ein Blitz über den Himmel. Kurz darauf erwachte tiefes Grollen über dem Meer und rollte krachend gegen den Strand.
Mirka atmete tief ein. Pyros spielt nur, beruhigte sie sich. Das ist nur ein Gewitter, nichts weiter. Eine Warnung an das Land des ewigen Frühlings.
Wieder zuckte ein Blitz herab und färbte das Meer für die Länge eines Herzschlags blutrot. Mirka biß die Zähne zusammen. Schritt für Schritt schlich sie näher an die Felsen. Im Schatten der Klippen konnte sie vielleicht unbemerkt zurückgehen. Sie mußte Brunhild aus dem Tempel holen und die Priesterinnen wecken. Pyros durfte nicht bis zum Wasserfall kommen. Wenn es ihm gelang, seinen Vater zu befreien, war das Volk der Gwenyar nicht stark genug, den Mächten des Feuers Einhalt zu gebieten.
Die Frau hielt inne. Von dem Hügel des Monscheintempels herab erklang Musik. Sie erfüllte plötzlich die Luft und schien mit leisem Flüstern die tosenden Elemente beruhigen zu wollen. Mirka lauschte aufmerksam. Sie hörte eine Harfe und eine Flöte.
Wieder schlug krachend ein Donner an den Strand. Doch Mirka war sich sicher. Die Musik kam vom Hügel, und dann erkannte sie auch die Stimmen der Priesterinnen. Sie waren wach! Gemeinsam sangen sie gegen den Magier an. Klare, helle Stimmen übertönten den Wind, der rauschend über das Meer fegte. Es war ein altes Lied, Mirka hatte es unlängst erst gelernt.
Helfe, Göttin gegen dunkle Feuersmacht,
steh vor uns wie ein ehern’ Schild,
hohe Frau im Lichterkranz,
gib uns Sonnenkraft
in finsterer Nacht!
Erleichtert atmete sie auf. Wie hatte sie nur glauben können, Camire habe das Eindringen des Magiers in das Land der Gwenyar nicht bemerkt. Die Göttin würde ihnen beistehen. Doch seltsam, dachte Mirka, warum ertönte nicht auch die weiche Stimme Camires? Warum sang die Hohepriesterin nicht mit?
Vielleicht war Camire auch im Haus der Göttin und betete.
Mirka schreckte auf. Genau über dem Tempel zerriß wieder ein gleißend heller Blitz das Dunkel der Nacht.
Sie mußte sich beeilen.
»Antana hat immer gesagt, hier am Wasserfall gäbe es kein Gewitter«, sagte Raban und drückte sich in der winzigen Höhle an die Wand. »Sie hat gelogen!« Er schaute mißmutig vor sich hin. »Das hier ist kein Zauberland, wie Antana gesagt hat. Mein Vater wird mich hier finden!«
»Sie hat nicht gelogen«, flüstert Brunhild zitternd. »Das ist das erste Mal.«
Er sah das Mädchen trotzig an. »Das soll ich dir jetzt glauben?«
Sie nickte eifrig.
Gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Donnerschlag waren sie in ihrem Versteck angekommen. Allein der kalte Wind hatte Brunhild schon ziemlich geängstigt. Das Mädchen kannte so etwas nicht. Raban rückte etwas näher zu ihr und hielt ihr die Hand. »Wir sind Gefährten der Nacht! Hast du das vergessen?« Er streichelte sie vorsichtig.
»Ich hab Angst«, flüsterte sie. »Wie nennst du das? Gewitter?«
»Ja«, sagte Raban. »Es kommt meist dann, wenn mein Vater...« Erschrocken hielt er inne. »Du sagtest, ihr habt das hier zum ersten Mal?«
Brunhilds Zähne klapperten aufeinander. »Ja.«
Raban kroch auf allen vieren zum Höhlenausgang. Das Meer rauschte, und der pfeifende Wind peitschte die Wellen tosend gegen den nahen Strand. Über ihm blitzte und donnerte es fast ohne Unterlaß.
Raban krabbelte zurück zu dem Mädchen. »Ich glaube, es ist mein Vater. Er ist bestimmt wütend, weil ich fort gelaufen bin.«
Brunhild schaute den Gefährten an. »Das Gewitter da draußen macht dein Vater?«
Der Junge seufzte. »Ich glaube schon.«
»Dann kannst du nicht zurückgehen, wenn er so zornig ist!« sagte Brunhild leise. »Wir müssen fort von hier, bevor er noch den ganzen Strand verwüstet.«
Wieder krachte es draußen, doch diesmal folgte dem Donner ein singendes Pfeifen, das immer schriller in die Nacht hinaus hallte. Brunhild hatte sich vor Schreck in Rabans Arme geworfen und hielt sich die Ohren zu.
»Was ist das?« flüsterte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Raban. »So etwas habe ich auch noch nie gehört.«
Mirka blieb stehen und riß die Augen auf. Brüllend fuhr das zuckende Feuer aus dem Himmel geradewegs in das Dach des Tempels. Steine splitterten, und das Gebälk brach, als hätte eine gewaltige Faust zugeschlagen. Mirka hielt den Atem an. Eine riesige Flammenwand schoß aus dem weißen Haus empor und setzte auch Teile des Hügels in Brand. Die Priesterinnen hörten auf zu singen. Statt dessen war ein lautes, schrilles Pfeifen zu hören, das surrend durch die Luft schwirrte.
Mirka hielt sich die Ohren zu. Das war der Ton der Göttin. Wahrscheinlich versuchten die Frauen, damit den Magier aus dem heiligen Ring zu vertreiben, ähnlich wie der singende Pfeil damals in der Wasserhöhle Erna vertrieben hatte. Aber in einer Höhle war ein solch schriller Ton durchdringend, da er sich an den Wänden brach und widerhallte. Hier, auf freiem Gelände, würde er einem Magier wie Pyros kaum Einhalt gebieten.
Mirka konnte den Blick nicht von dem brennenden Tempel abwenden. Blindlings rannte sie auf das Feuer zu. Mit fliegenden Haaren kam sie am Fuß des Hügels an. Es durfte nicht wahr sein! Pyros hatte das Haus der Göttin wirklich zerstört, und die kleine Brunhild war noch im Tempel!
Mit klopfendem Herzen rannte sie den Hügel hinauf. Zwei Priesterinnen liefen ihr entgegen; sie waren von dem sprühendem Feuer verletzt worden.
»Mirka, bleib hier, geh nicht hinauf!« rief ihr eine besorgte Stimme nach, doch Mirka dachte nur an das Kind und lief weiter.
Plötzlich fühlte sie sich von einem festen Griff gehalten. Eine Frau im schwarzen Gewand stand, wie aus dem Nichts aufgetaucht, neben ihr und hielt sie zurück.
»Laßt mich, ich muß die Kleine retten«, keuchte Mirka. Eilig versuchte sie sich loszureißen, doch die Frau hielt sie umklammert. Plötzlich spürte sie eine große, tiefe Ruhe in sich. Alle Angst glitt von ihr ab, in ihr war nur noch Frieden. Sie schaute auf. Camire nahm ihre Hand fort. »Das Kind, das du suchst, Mirka, ist nicht hier.«