»Sollen wir nachschauen?« Raban kroch wieder zum Höhlenausgang.
»Glaubst du denn, dein Vater ist fort?« Raban zuckte mit den Schultern. »Man kann nie genau sagen, was er tut oder wo er ist«, sagte er.
»Mhm«, machte Brunhild. Ihr war das alles nicht geheuer. Sie war froh, daß sie keinen Vater hatte. Selbst die Priesterinnen waren nett zu ihr, obwohl Camire sie manchmal böse anblickte, wenn sie wieder eines dieser Zauberwörter nicht richtig aussprach.
»Was siehst du?« fragte sie.
»Nichts!«
»Nichts?« Brunhild krabbelte Raban nach und streckte ebenfalls den Kopf aus ihrem Versteck. Das Meer war wieder ruhig, als wäre nichts geschehen. Sie wagte sich noch ein Stück weiter vor. Auch am Strand war alles ruhig. »Komm«, flüsterte sie. Mutig verließ sie die Höhle. Dann blieb sie jedoch vor Schreck stehen. Als sie auf den Mondscheintempel schaute, hielt sie inne. Ein riesiges Feuer brannte dort, wo das Haus der Göttin gestanden hatte.
»Gütiger Himmel«, entfuhr es Raban, der neben Brunhild am Strand stand.
»Da haben wir aber Glück gehabt. Wenn du nicht heute nacht weggelaufen wärest, dann...«
»Dann wäre ich im Tempel verbrannt«, beendete Brunhild den Satz. Immer noch schaute sie wie gebannt auf das Feuer. »Laß uns nachsehen, was geschehen ist.«
»Jetzt?« Raban schaute sie fragend an. »Aber dann werden sie uns finden?«
»Glaubst du wirklich, ich laufe von hier fort, wenn die Priesterinnen verletzt sind? Wir müssen ihnen helfen. Vielleicht ist die alte Ramee verwundet!« Entschlossen lief Brunhild den Strand entlang auf den brennenden Hügel zu.
»Warte«, rief Raban. »Warte, ich komme mit.«
Sie warf einen mißtrauischen Blick auf den Jungen. »Warum tut dein Vater das alles?«
Raban zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht.« Er sah unglücklich aus.
»Mhm«, machte Brunhild wieder. »Wir schauen zuerst bei den Höhlen nach.«
Sie verließen den Strand und wanderten einen der Hügel hinauf. Als sie auf der Höhe ankamen, duckte sich das Mädchen plötzlich. Sie griff nach Rabans Hand und zog ihn mit sich in ein Gebüsch. »Horch, da kommt jemand«, flüsterte Brunhild.
In einiger Entfernung sahen sie zwei Frauen vorübergehen. Die eine trug das Gewand der Hohepriesterin. Brunhild runzelte die Stirn. Aber es war nicht Camire, es war Mirka!
Sie schaute auf die andere Frau, und ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Arma, das war Arma! Da gab es keinen Zweifel, sie erkannte die blonde Kriegerin sofort. Jede ihrer Bewegungen war ihr vertraut. Also hatte die Priesterin gelogen. Das hatte Brunhild gleich gewußt! Arma würde niemals so lange fortbleiben!
Brunhild wollte schon aufspringen, um der Kriegerin entgegenzueilen, doch dann blieb sie still unter den Zweigen hocken.
»Bist du sicher, daß Brunhild in ihrem Versteck von Pyros nicht entdeckt wird?« fragte Arma gerade.
Das Mädchen hielt den Atem an.
»Ja,« sagte Mirka. »Das Mädchen ist am Abend fortgelaufen und Camire hat sie nicht zurückgeholt, weil sie wußte, daß Pyros kommen würde. Brunhild hat sich am Strand versteckt.«
»Bist du sicher?« fragte die Kriegerin wieder.
»Brunhild war nicht im Tempel, als er einstürzte. Warum sollte Camire lügen?«
»Weil sie Pyros liebt!«
Mirka blieb stehen. »Aber was hat das mit dem Kind zu tun?«
»Ich bin sicher, Camire hat mich fortgeschickt, weil sie wußte, das Pyros bald kommen würde. Sie ahnt, daß ich nichts unversucht lassen würde, ihn sterben zu sehen!«
»Was willst du nun tun? Willst du gegen den Magier kämpfen oder nach Brunhild sehen?«
Arma atmete tief durch. »Die Kleine wird eine Weile ohne mich auskommen. Ich werde sie nach dem Kampf suchen.«
»Ich denke auch, daß es so besser ist!« sagte Mirka. »Wenn das Mädchen weiß, daß du da bist, wird sie vielleicht...«
Mehr hörte Brunhild nicht, da die Frauen mit schnellen Schritten rasch hinter dem Hügel verschwanden.
»Komm, wir müssen ihnen nachgehen,« flüsterte Raban aufgeregt. »Sie wollen gegen meinen Vater kämpfen.«
»Aber das ist zu gefährlich!« Brunhild schaute den Jungen mit großen Augen an. »Er könnte sie töten!«
»Ja«, sagte Raban traurig. »Das könnte er.« Damit verschwand er aus dem Gebüsch.
Er war schon fast an dem Tempel angekommen, als Brunhild hinter ihm auftauchte.
»Ich weiß nicht, ob das klug ist?«
»Bist du etwa feige?«
»Nein«, sagte Brunhild. »Ich bin nicht feige!«
»Dann komm endlich!«
Hand in Hand erreichten sie die andere Seite des Hügels. Von der gegenüberliegenden Anhöhe rauschte der klare Wasserfall hinab in den See, in dessen Mitte eine Frau schwamm.
»Das ist Camire«, flüsterte Brunhild. Leise zog sie den Jungen hinter einen Stein. Über den Hügel kamen drei Frauen gelaufen. Sie rannten hinunter zum See. Brunhild staunte. Es waren Priesterinnen, doch sie trugen Lederrüstungen wie Arma und jede war mit Pfeil und Bogen bewaffnet.
»Mein Vater hat böse Augen, wenn er zaubert, aber manchmal ist er auch nett«, flüsterte Raban.
Das Mädchen schaute den Gefährten an. »Du magst ihn doch ein bißchen?«
Raban schniefte. Mit dem Ärmel seines Gewandes wischte er sich über die Nase. »Er ist oft böse zu mir, er hat mich geschlagen und mir weh getan. Aber er kann auch sehr nett sein. Antana hat gesagt, daß er einmal sehr, sehr nett war. Früher, bevor sein Kopf weh tat, bevor der Geist immer wieder kam.«
»Welcher Geist?«
Raban zuckte mit den Schulter. »Antana hat gesagt, daß Pyros den Geist von Elinor töten muß, um gesund zu werden, weil der Geist des Alten ihm keine Ruhe läßt!«
Brunhild versuchte sich vorzustellen, ob Ritter Bruno auch einmal nett war, bevor er krank wurde. Ob Ritter Bruno vielleicht auch einen Geist töten mußte?
»Sag, wo ist dieser Geist, den man töten muß, um gesund zu werden?«
»Weiß ich nicht!«
»Schade«, rief Brunhild enttäuscht. Sie hätte Ritter Bruno gerne geholfen. Sie kam nicht weiter in ihren Gedanken, denn unten am See war ein Mann erschienen. Er trug ein dunkles Gewand. Seine langen Haare fielen ihm über die Schulter, und er schaute immerzu auf den Wasserfall. Brunhild betrachtete ihn fasziniert. Das war kein Mann aus dem alten Volk. Er war schön, doch irgend etwas an ihm machte ihr Angst.
Raban drückte ihre Hand. Wie gebannt starrte er auf den Mann.
»Ist das dein Vater?« fragte Brunhild leise. Ihr Herz begann laut zu schlagen, daß sie meinte, der Fremde unten am See müßte es hören.
Der Junge nickte.
Das Mädchen lauschte. Eine einzelne helle Stimme hatte begonnen, ein Lied zu singen. Brunhild kannte es nicht, aber es war ein sehr durchdringendes Lied, das sie tief berührte. Unwillkürlich verließ sie ihr Versteck, um dem Gesang zu folgen. Sie wollte mehr davon hören und ging näher an den See heran.
Camire hatte sich aufgerichtet. Das Wasser reichte ihr nur noch bis zur Hüfte. Ihre nackte, weiße Haut schimmerte silbern in dem sanften Mondlicht, ihre Brüste waren weich, und das lange blonde Haar umspielte sie wie ein verzauberter Schleier.
»Oh«, machte Brunhild. Sie war sich sicher, nie zuvor etwas so Schönes gesehen zu haben.
»Kommt schon, Bruno, wir können die Frauen nicht alleine lassen! Ich habe gesehen, wie drei von ihnen bewaffnet über den Hügel zu dem brennenden Tempel gingen. Weiß der Teufel, was da los ist.« Faramund fluchte, als er über das achtlos liegengelassene Schwert des anderen stolperte. »Steht endlich auf.«
Der junge Ritter schüttelte Bruno ein wenig, doch der Schwertmeister bewegte sich nicht. Er lag seit Tagen schon wieder nur auf seinen Decken und hatte die Welt vergessen. Die ehemals so klaren Augen blieben stumpf und glanzlos.