»Um Eure Bedenken ein wenig zu zerstreuen, Aysar ist es gewohnt über den Burgweg zu gehen, sie wird nicht scheuen«, bemerkte Luovana und lehnte ihren Rücken an seine Brust, »wenn Ihr ruhig sitzen bleibt, wird Euch also nichts geschehen.«
»Gut, dann laßt es uns versuchen«, erwiderte Bruno mit betont kühler Stimme.
»Aber das könnt Ihr doch nicht wagen«, rief Faramund voller Entsetzen. »Wir werden wie Wildschweine über dem Feuer geröstet, wenn wir über diese Brücke gehen. Wer sagt überhaupt, daß diese Brücke nicht unter uns zusammenbricht?«
Bruno wandte sich zu Faramund, um ihn zu beruhigen. Doch der junge Ritter ließ ihn nicht zu Worte kommen.
»Nein, sagt jetzt nicht, daß es mir an Mut mangelt.« Damit gab er dem Braunen die Sporen und ritt an der Stute vorbei aus der Höhle hinaus. Bruno atmete erleichtert auf, als er sah, wie ruhig und sicher der mächtige Wallach hinaus auf den schmalen Weg zwischen Höhle und Brücke trat. Die Ohren des Pferdes waren aufmerksam nach vorn gerichtet, und vorsichtig setzte es die Hufe voreinander. Es vertraute seinem Reiter. Die Pferde aus dem Burgundenland sind verläßliche Tiere, dachte Bruno. Der Braune würde den Jungen sicher hinüberbringen. Sein Fuchs hätte auch keine Schwierigkeiten gemacht.
»Nein!« Luovana schrie plötzlich auf und trieb die Stute verzweifelt aus der Höhle hinaus, hinter dem Braunen her.
Bruno hielt sich unwillkürlich an Luovana fest, um den Halt nicht zu verlieren. Ihm stockte der Atem. Die Hitze schlug ihnen wie eine Welle entgegen, als sie die Höhle verließen. Fast hatten sie Faramund eingeholt, als sie den Wallach schmerzerfüllt wiehern hörten. Wild bäumte sich das Tier vor ihnen auf. Über Luovanas Schulter hinweg sah Bruno den rotgefiederten Pfeil, der sich gnadenlos in den Hals des Braunen gebohrt hatte. Faramund verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Weg nahe bei dem Abgrund. Der Wallach warf sich herum, um Faramund nicht mit den Vorderhufen zu treffen, und wie von allen Dämonen der Hölle gejagt, floh er in wilder Panik über die Brücke. Als er sie zur Hälfte überquert hatte, verließen ihn jedoch die Kräfte. Er strauchelte und stürzte mit einem schaurigen Wiehern über den schmalen Rand hinab in die rotglühende Tiefe.
Behende sprang Bruno von der Stute und half Faramund aufzustehen. Als er sich umdrehte und in die Richtung schaute, aus der der Pfeil gekommen sein mußte, erkannte er in dem rötlichen Licht die nackten Felsen, die sich über dem Höhleneingang auftürmten.
Direkt oberhalb des Höhlenausgangs saß ein Adler. Ein wenig höher auf einem winzigen Plateau erkannte er die Gestalt einer Frau. Ihr Umhang wehte leicht um sie herum, sie zielte mit dem Bogen auf ihn und lachte. Ein Schauer lief dem Ritter über den Rücken. Alles in ihm schrie nach Rache. Dieser Giftnatter gäbe er mit Freuden den Tod.
»Wie ich sehe, habt ihr kühne Träume von meinem Tod«, rief die Gestalt und lachte wieder. Bruno schluckte. Wie konnte dieses Weib wissen, was er dachte?
»Ich will sie tot vor mir liegen sehen«, schnaufte Faramund und zog sein Schwert.
»Nein!« Auch Luovana war von der Stute gesprungen. »Nein, sie würde Euch töten, noch bevor Ihr ein letztes Gebet gesprochen hättet.«
Sie drehte sich um. »Lursa«, rief sie, »die Opfer für die Göttin sind nun vollbracht. Geh, denn jenseits der Brücke endet deine Macht.«
Die andere lachte wieder und nahm den Bogen herunter. »Keine Angst, ich werde nicht über den Burgweg gehen. Noch nicht, Schwester. Aber sei gewiß, ich werde kommen.« Sie deutete eine spöttische Verbeugung an und verschwand zwischen den drohenden Schatten der Felsen.
»Sie ist des Todes«, flüsterte Faramund und steckte widerwillig sein Schwert weg.
»Das sind wir alle«, bemerkte Luovana leise und trat zu ihrer Stute. »Es ist nur eine Frage der Zeit.«
4
Luovana stand am Kamin und schaute in die Flammen. Sie liebte die weiche rote Farbe des Feuers. Die Flammen besaßen eine eigene Sprache, die Luovana von den Gwenyar gelernt hatte. Jedes einzelne Flackern war Teil eines großen Reigens, der ein Bild ergab. Das alte Volk vermochte in dem Feuer ganze Geschichten und Ereignisse zu lesen, solche, die schon vergangen waren, und solche, die noch geschehen würden. Luovana nahm das Schüreisen, um die Glut ein wenig zueinanderzuschieben, und dachte dabei an den Ritter. Bruno von Falkenstein war ein ungewöhnlicher Mann. Es war nicht nur seine Traurigkeit, die sie tief beeindruckte. Seine hochgewachsene Erscheinung und die hellen Augen unterschieden ihn von den Männern dieser Gegend, die zumeist von eher zarter Gestalt waren. Seine Stimme war von einem samtigen Dunkel, so daß die wenigen Worte, die er gesprochen hatte, einen seltsamen Zauber auf sie gelegt hatten. Luovana seufzte leise. Sie wünschte sich sehnlichst, daß der Ritter zu ihr käme, um sie in seine Arme zu schließen.
Das Flackern der Flammen wurde gieriger. Luovana fühlte, wie das Feuer wärmer wurde, und schaute gebannt auf das züngelnde Orangerot. Ein seltsames Bild entstand in ihrem Kopf. Es schimmerte zuerst wie Mondlicht, das durch lange Baumschatten fiel. Dann wurde es klarer: Sie erkannte deutlich einen Fluß, einen breiten dunklen Strom, auf dem sich das Mondlicht kräuselte. Sie sah einen Mann am Ufer stehen. Er trug eine leblose Frau in einem weißen Gewand auf dem Armen. Er weinte. Nur langsam löste er sich aus seiner Starre und ging vorsichtig mit der Toten in das Wasser. Er drückte die zarte Frauengestalt immer wieder an sich und küßte sie, als könne er sie damit ins Leben zurückholen. Als er bis zu den Hüften im Wasser stand, schrie er verzweifelt auf und schaute mit schmerzverzerrtem Gesicht hinauf zum Mond. Endlich gab er die Tote frei, ließ sie sanft in die Tiefe hinabgleiten, und der Fluß nahm sie mit sich fort. Gleich darauf schrie der Mann wieder auf, versuchte noch nach der Frau zu greifen, doch es war zu spät.
Luovana löste den Blick von den Flammen und wandte sich um. Erschöpft griff sie sich an die Schläfen. Ihr Kopf brannte, und ein wilder Schmerz bohrte sich ihr ins Herz. Solch traurige Bilder hatte sie noch nie gesehen, sie konnte es sich nicht erklären, doch plötzlich wußte sie, was diese Bilder bedeuteten. Bruno von Falkenstein hatte seine Geliebte verloren, ihn hatte sie dort am Fluß gesehen. Sie schauderte vor diesem Schmerz. Wenn er doch nur zu ihr käme, dachte sie.
Sie griff nach dem silbernen Kelch, der unweit von ihr auf dem Tisch stand. Ein süßer schwerer Geruch stieg ihr entgegen und belebte ihre Sinne. Wein, dachte sie, so rot wie das Blut, das Lursa trank, wenn sie der Göttin opferte. Einzig durch das Feuer ließe sich der wesentliche Unterschied feststellen. Der Wein würde schimmern, hielte man ihn in einem Kristallgefäß vor die Flammen, das Blut aber bliebe bei der Berührung mit dem warmen Licht dunkel und schwer.
Luovana stellte den Becher wieder ab und ging zum Fenster hinüber. Der brennende Lavaring, der ihre Burg umschloß, warf sein leuchtendes Schimmern gen Himmel und schützte sie vor den dunklen Mächten, vor der Kälte und dem Schnee. Lursa besaß diesen Schutz nicht mehr. Sie hauste mit Pyros, dem Adler, draußen in den Bergen irgendwo in einer Höhle. Verlassen von der Weisheit des Lichtes lebte sie mit den Schatten, mit Kälte und Tod. Dennoch war Lursa ihr manchmal sehr nahe. Dann hörte Luovana plötzlich wieder das laute, helle Kinderlachen der älteren Schwester, wenn sie gemeinsam über die langen Flure der Burg gelaufen waren. Lursa hatte diese Wettrennen zumeist gewonnen. Sie war die Stärkere, und sie war wunderschön. Luovana hatte sie um ihre Kraft beneidet und darum, wie schnell sie die Magie lernte, fast so, als sei auch das nur ein Spiel für sie. Niemand hatte je daran gezweifelt, daß Lursa nach dem Tode ihrer Mutter die Hüterin des Feuers werden würde. Sie war die Auserwählte!