Einigen wurde bewußt, daß sie völlig nackt waren.
Alle bewegten sich in völliger Stille und sichtlichem Nichtverstehen.
Plötzlich begann eine der Frauen zu stöhnen. Sie fiel auf die Knie, zog den Kopf zwischen die Schultern und begann laut zu jammern. Jemand anders fiel im gleichen Moment in unmittelbarer Nähe des Flußufers in den Klagelaut ein.
Es schien beinahe, als hätte das Weinen dieser beiden Menschen eine Art Signalwirkung oder stellten einen doppelten Schlüssel zu den Seelen der hier versammelten Menschen dar, die in der Lage waren, mit einem einzigen Ton deren Stimmbänder zu befreien.
Wie auf ein Kommando hin begannen Männer, Frauen und Kinder zu weinen und zu schluchzen, kratzten sich mit den Fingernägeln über das Gesicht, schlugen sich mit geballten Fäusten gegen die Brust oder fielen auf die Knie, während sie betend die Hände erhoben oder allen Ernstes versuchten, ihre Köpfe in den grasbewachsenen Boden einzugraben. Wie die Kinder versuchten sie sich zu verstecken. Sie warfen sich zu Boden, rollten hin und her, bellten wie Hunde, jaulten wie ein Wolfsrudel.
Entsetzen und Hysterie ergriffen Burton. Er wollte sich auf die Knie werfen und beten, sich für die Errettung vor dem Jüngsten Gericht bedanken. Er suchte Gnade. Ihm lag nichts daran, das Menschen blendende Antlitz Gottes über den Bergen auftauchen zu sehen. Er wußte, daß es heller war als die Sonne. Und er war jetzt gar nicht mehr so mutig und schuldlos, wie er bisher angenommen hatte. Das Jüngste Gericht würde mit einem solchen Erschrecken, einer solchen Unausweichlichkeit über ihn kommen, daß er an nichts anderes mehr denken konnte.
Er erinnerte sich, sich einmal ausgemalt zu haben, wie er Gott nach seinem Tode entgegentreten würde. Er hatte sich klein und nackt in der Mitte einer tiefen Ebene aufgehalten, die dieser hier glich. Aber er war allein gewesen.
Dann war Gott, groß wie ein Berg, auf ihn zugekommen. Und er, Burton, war fest dagestanden und hatte ihn verleugnet.
Obwohl er keinen Gott sehen konnte, rannte er dennoch davon. Er lief über die Ebene, stieß Männer und Frauen beiseite, eilte an ihnen vorbei und sprang über jene, die sich am Boden wälzten, einfach hinweg. Und während er rannte, schrie er: »Nein! Nein! Nein!« Seine Arme wirbelten durch die Luft wie die Flügel einer Windmühle, um die unsichtbaren Schrecken abzuwehren.
Der an seinem Handgelenk befestigte Zylinder flog von einer Richtung in die andere.
Erst als ihm das Luftholen derartige Schmerzen verursachte, daß er nicht länger in der Lage war, auch nur den kleinsten Schrei auszustoßen, als er das Gefühl nicht mehr los wurde, daß an seinen Armen und Beinen bleischwere Gewichte hingen, seine Lungen brannten und sein Herz wie wild schlug, ließ er sich zwischen die ersten Bäume fallen.
Nach einer Weile setzte er sich wieder auf und warf einen Blick über die Ebene. Der von der Menge erzeugte hysterische Lärm hatte sich nun von dem herzzerreißenden Heulen und Jammern zu einem unüberhörbaren Schwätzen gewandelt. Die Mehrheit der Leute redete aufeinander ein, obwohl niemand dem anderen zuzuhören schien. Burton war nicht in der Lage, auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Manche der Männer und Frauen hielten einander in den Armen, drückten und küßten sich, als hätten sie sich in ihrem vorherigen Leben gekannt und einander erst hier wiederentdeckt.
Inmitten der Menge saßen einige Kinder, von denen keines unter fünf Jahre alt zu sein schien. Wie die der Erwachsenen, waren auch ihre Köpfe barhäuptig. Die Hälfte von ihnen weinte und gestikulierte verzweifelt, während andere, ebenfalls laut jammernd, hin und her liefen, in die Gesichter der Älteren starrten und offensichtlich ihre Eltern suchten.
Sein Atem begann sich zu normalisieren. Burton stand auf und wandte sich um.
Der Baum, unter dem er stand, war eine rote (des öfteren fälschlicherweise als norwegische bezeichnete) Pinie. Sie war mehr als sechzig Meter hoch, und der danebenstehende Baum gehörte einer Art an, die Burton noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Er zweifelte daran, daß es ihn auf Erden je gegeben hatte. (Daß er sich nicht auf der Erde befand, war ihm klar, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen wäre, dafür einen speziellen Grund anzugeben.) Der Baum bestand aus einem dicken, knorrigen Stamm von schwarzer Farbe und verfügte über starke Äste, die dreieckige, beinahe zwei Meter lange Blätter trugen. Sie waren grün und scharlachrot gesprenkelt. Der Baum schien mindestens hundert Meter hoch zu sein, und jene, die in seiner Nähe standen, ähnelten weißen und schwarzen Eichen, Kiefern, Eiben und Tannen.
Ab und an stieß er auch auf große, bambusähnliche Gewächse, und wo sich keine Bäume befanden, wuchs überall meterhohes Gras. Nirgendwo waren Tiere zu erblicken. Nicht einmal Insekten oder Vögel.
Burton hielt nach einem Knüppel oder Stock Ausschau. Er hatte nicht die geringste Idee, was als nächstes auf der Tagesordnung der Zukunft dieser Menschenansammlung stand, aber wenn sie unbewacht und unkontrolliert vor sich hinlebte, würden sich sicher recht bald wieder die normalen Machtstrukturen bilden. Wenn der Schock erst einmal überwunden war, würde jeder zuerst einmal an sich denken, und das war gleichbedeutend damit, daß es Leute geben würde, die dafür über Leichen gingen.
Er fand nichts, was ihm als Waffe hätte dienlich sein können. Ob er den Metallzylinder vielleicht dazu verwenden konnte? Er schlug ihn gegen einen Baum. Obwohl er ziemlich leicht schien, war er von einer extremen Härte.
Burton öffnete den an einem Scharnier befestigten Deckel am anderen Ende des Zylinders. Das Innere enthielt sechs karabinerhakenähnliche Ringe. An jedem einzelnen baumelte eine Tasse, ein Teller oder andere Behälter aus grauem Metall. Er schloß den Deckel wieder. Er zweifelte nicht daran, daß er über kurz oder lang herausfinden würde, welche Funktion dieser Zylinder und sein Inhalt hatten.
Was auch geschehen war — die Wiedererweckung hatte keine Gestalten hervorgebracht, die aus zerbrechlichem, nebelhaftem Ektoplasma bestanden.
Alles, was er fühlte, waren Fleisch und Knochen.
Obwohl er sich immer noch ein wenig der Realität entrückt fühlte und sich vorkam, gerade vom Ende der Welt zurückgekehrt zu sein, fiel der Schock langsam von ihm ab.
Er verspürte Durst. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, als zu diesem Fluß hinunterzugehen und aus ihm zu trinken. Hoffentlich war er nicht vergiftet. Der Gedanke amüsierte ihn plötzlich und ließ ihn trocken grinsen.
Er strich sich über die Oberlippe, und seine Finger trafen auf nichts als nackte Haut. Erst jetzt erinnerte er sich daran, daß auch sein Schnauzbart nicht mehr existierte. Oh, tatsächlich, er hatte gehofft, daß das Flußwasser nicht verseucht sei. Welch komischer Gedanke! Warum sollte jemand die Toten wieder zum Leben erwecken, bloß um sie anschließend erneut sterben zu lassen? Dennoch blieb er lange Zeit unter dem Baum stehen. Der Gedanke, sich durch die hysterisch schwätzende Menge einen Weg zum Fluß zurück zu erkämpfen, erfüllte ihn mit unguten Erinnerungen. An diesem Ort, abseits der schluchzenden Meute, fühlte er sich vom größten Teil des Entsetzens und der Panik, die ihn — gleich den anderen — überspült hatten, seltsam befreit.
Ginge er jetzt zurück, setzte er sein Seelenleben erneut den Gefühlsaufwallungen der anderen aus.
Er sah plötzlich eine sich aus der Menge lösende nackte Gestalt und stellte fest, daß sie auf ihn zustrebte. Sie war nichtmenschlich.
Und jetzt wurde Burton klar, daß dieser Wiedererweckungsvorgang mit keinem derjenigen identisch war, den die Religionen der Welt ihren Gläubigen verhieß. Er selbst hatte weder an den Gott der Christen noch an den der Moslems, Hindus oder irgendeiner anderen Kirche geglaubt. Genaugenommen hatte er sogar jegliche Existenz irgendeines Schöpfers geleugnet. Alles was ihm wichtig gewesen war, war Richard Francis Burton selbst — und vielleicht noch ein paar Freunde. Und er hatte niemals daran gezweifelt, daß im Augenblick seines Todes auch die ganze übrige Welt zu existieren aufhörte.