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Aber auch das spielt keine Rolle. Nur das Heute und das Morgen betreffen uns, und jeder folgende Tag wird für sich selbst zählen.«

Burton hatte den Eindruck, daß es Collop weder interessierte, was Göring einst gewesen war, noch daß er dem Deutschen seine Geschichte überhaupt abnahm. Es gab zu diesen Zeiten so viele Spinner, daß die wirklichen Helden und Schurken ihnen gegenüber tatsächlich weit in der Minderheit waren.

Burton selbst hatte inzwischen die Bekanntschaft von zwei Leuten, die sich für Jesus Christus hielten, gemacht. Des weiteren kannte er drei Abrahams, sechs Attilas, ein Dutzend Judasse (von denen nur einer in der Lage war, aramäisch zu sprechen), einen George Washington, zwei Lord Byrons, drei Jesse James’, jede Menge Napoleons, einen General Custer (mit einem wunderhübschen Yorkshire-Akzent), einen Finn MacCool (der kein mittelalterliches Irisch konnte), einen Tschaka (der allerdings den falschen Zulu-Dialekt beherrschte) und nicht weniger als sechs Leute, die für sich in Anspruch nahmen, Richard Löwenherz zu sein.

Egal, was man auf der Erde dargestellt hatte: Jedermann mußte sich auf dieser Welt seinen Platz erkämpfen. Und das war nicht leicht, zumal sich die Voraussetzungen entscheidend geändert hatten. Die Großen und Wichtigen der Erde waren aus diesen Gründen ebenso wie die Spinner ständigen Demütigungen ausgesetzt und weigerten sich daher meist, ihre wahren Identitäten preiszugeben.

Für Collop stellte die Erniedrigung allerdings so etwas wie einen Segen dar.

Erst die Erniedrigung, dann die Demut, so lautete seine Devise. Und irgendwann würde dann die Menschlichkeit von selber kommen.

Und Göring hatte sich in dem Großen Plan — wie Burton es nannte — verfangen, weil es seiner Natur entsprach, sich übermäßigem Genuß hinzugeben, wie sein großer Drogenkonsum bewies. Obwohl er genau darüber Bescheid wußte, daß Dinge wie Traumgummi an seinen Wurzeln zerrten, sein Innerstes nach außen stülpten und die finsteren Kräfte, die tief in seinem Innern schlummerten, an die Oberfläche trieben, ihn zerrissen und wankelmütig machten, kaute er dennoch soviel, wie er bekommen konnte. Er war nach der neuen Erweckung zeitweise stark genug gewesen, sich dem Ruf der Droge zu widersetzen. Aber bereits ein paar Wochen nach der Ankunft in diesem Gebiet hatte sie sich als stärker erwiesen. Göring kaute wieder. Es dauerte nicht lange, dann wurde die Stille der Nacht wieder von seinem Geschrei zerrissen: »Hermann Göring, ich hasse dich!«

»Wenn das so weitergeht«, sagte Burton zu Collop, »wird er bald durchdrehen.

Oder er wird sich umbringen. Vielleicht kann er auch einen anderen so weit treiben, ihn zu töten, damit er weiter vor sich davonlaufen kann. Aber auch der Tod kann ihm keinen Nutzen bringen; es wird immer so weitergehen. Sag mir, ist das nicht doch die Hölle?«

»Es ist das Fegefeuer«, sagte Collop. »Und im Fegefeuer gibt es immer noch die Hoffnung.«

24

Zwei Monate vergingen. Burton hatte sich angewöhnt, die verflossenen Tage mit der Spitze eines Steinmessers in einen Pinienstab zu ritzen. Er erlebte nun den vierzehnten Tag des siebten Monats im Jahre fünf N.W. — nach der Wiedererweckung. Er versuchte den Kalender akkurat zu führen, schließlich war er — unter anderem — ein Chronist. Aber es war schwierig, denn die Zeit bedeutete in der Flußwelt nicht sonderlich viel. Der Planet verfügte über eine Polachse, die neunzig Grad zur Ekliptik stand, deswegen gab es weder unterschiedliche Jahreszeiten noch die Möglichkeit, sich an den Sternen zu orientieren, die so eng beieinander standen, daß man dachte, sie müßten sich fast anrempeln. Sie waren so groß und hell, daß selbst die Mittagssonne, wenn sie den Zenit erreichte, nicht in der Lage war, den größten von ihnen völlig zu überstrahlen. Wie Geistererscheinungen, die sich trotzig weigerten, bei Tagesanbruch zu verschwinden, hingen sie brennend am Himmel.

Dennoch — der Mensch braucht seine Zeitrechnung wie der Fisch das Wasser.

Und wenn er sie nicht hatte, erfand er sie eben. Und deshalb war es für Burton der 14. Juli des Jahres 5 N.W. Collop führte allerdings die Zeitrechnung auf der Basis des Tages weiter, an dem er gestorben war. Für ihn war es das Jahr 1667 A.D. Viele Menschen taten es ihm in dieser Beziehung gleich; sie glaubten immer noch nicht, daß ihr heißgeliebter Jesus sie betrogen hatte. Eher schon sahen sie den Fluß als Jordan an, und das Tal als jene grüne Aue, die man erreichte, wenn man die Schattenlandschaft des Todes hinter sich gebracht hatte. Zwar gab Collop zu, daß das hiesige Leben anders war, als er es sich hatte träumen lassen, aber er mochte nichts Negatives daran entdecken. Ganz im Gegenteiclass="underline" Gottes Land hatte seine Erwartungen noch übertroffen. Er zweifelte nicht daran, daß die Flußlandschaft Gottes innige Liebe zu seinen Geschöpfen zum Ausdruck brachte. Er hatte allen Menschen, ob gut oder böse, eine zweite Chance gegeben. Und wenn diese Welt nicht das Neue Jerusalem darstellte, dann war sie doch zumindest der Baugrund, auf dem man es errichten konnte. Die Ziegelsteine, die Gottes Liebe symbolisierten, mußten mit Mörtel zu einer Einheit verbunden werden.

Obwohl Burton nichts als Amüsiertheit bei dieser Art von Erklärungen empfand, konnte er nicht dagegen an, daß er den kleinen Collop gern mochte.

Collop war ehrlich; das Feuer der Begeisterung, das in ihm brannte, war nicht durch irgendwelche theologischen Bücherweisheiten angefacht worden.

Was er sagte, kam tief aus seinem Innersten. Er schürte die Flamme, die in ihm aufloderte, mit der Kraft der Liebe. Und Liebe empfand er noch für den verwerflichsten Charakter.

Collop erzählte Burton schließlich auch einiges über sein vorheriges Leben auf der Erde. Er war Arzt gewesen, hatte ein Landgut besessen, galt als liberaler Mensch. Sein unerschütterlicher Glaube an die Kirche hatte ihn jedoch keinesfalls selbstgefällig werden lassen. Im Gegenteiclass="underline" die Fragen, die den Glauben und die großen gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit betrafen, waren ihm nie ausgegangen. Ein Traktat über religiöse Toleranz, von ihm verfaßt und herausgegeben, hatte ihm sowohl Hochachtung als auch wütende Ablehnung eingetragen. Auch eine Reihe Gedichte hatte er veröffentlicht, die ihn zu kurzem Ruhm geführt hatten, später jedoch der Vergessenheit anheimgefallen waren.

Herr, mach all die Ungläubigen seh’n laß all die Wunder neu Entsteh’n die Aussätzigen und die Blinden heile, und laß die Toten wieder geh’n.

»Meine Verse mögen vergessen sein«, sagte Collop zu Burton, »aber die Wahrheit, die sie enthalten, trifft immer noch zu.« Er deutete mit erhobener Hand auf die Hügel, den Fluß, die Berge und die Menschen. »Wenn du deine Augen öffnest und dich von deinen festgefaßten Vorsätzen loslöst, wirst du erkennen, daß all dies nicht das Werk von Menschen wie uns sein kann.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: »Für mich steht fest, daß diese Ethiker nichts anderes als die Werkzeuge sind, derer sich der Schöpfer bedient.«

»Das andere Gedicht, das du geschrieben hast, sagt mir mehr zu«, sagte Burton.

Wohlauf, meine Seele, steig’ Himmelan! Der Erd’ gehörst du nicht. Den Funken gab der Himmel dir; nun, Feuer, kehr’ zu ihm zurück!

Collop fühlte sich geehrt. Er wußte allerdings nicht, daß Burton den Sinn seines Verses ganz anders interpretierte als ihr Schöpfer.

»Nun, Feuer, kehr’ zu ihm zurück!«