Eigentlich musste man ihnen ja dankbar sein für diese Neugier, dachte er, denn es lag soviel Versöhnliches und Zutrauliches darin. Aber gleichzeitig weckte es Abwehr und Aggression. Dagegen konnte man nichts tun, es ging ganz automatisch.
Eines Morgens, nach einem merkwürdigen orientalischen Traum, in dem er die Füße des großen Aristotelesübersetzers und — kommentators Averroes mit einer roten Feder kitzelte, bis dieser schließlich das Gleichgewicht verlor, hatte Walter entschieden, dass er seine Zuneigung nicht mehr zu gleichen Teilen unter den Geschlechtern aufteilen würde. Das viele Hin und Her konnte auf Dauer nicht gut gehen. Da seine intensivsten Beziehungen bisher die mit Männern gewesen waren, wollte er nun in dieser Richtung weitergehen und verließ noch am selben Tag Nina, die völlig ausrastete und ihm ein Telefonbuch nachwarf. Es verfehlte ihn und klatschte an die Wand. Nina schrie, ihre Stimme überschlug sich und ihr Gesicht wurde rot. In seiner Not schwindelte Walter ihr vor, dass er ausschließlich schwul wäre, was sie ein wenig friedlicher stimmte. Ihre Finger vergitterten sich vor ihrem Gesicht, und sie sank an der Wand in die Knie. Walter dachte, dass er noch niemals einen Menschen in derartiger Verzweiflung gesehen hatte. Er schaute auf seine Schuhspitzen, in denen sich seine Zehen befanden. Er bewegte einen Schuh, nach links, nach rechts, währenddessen hörte er Ninas leises Weinen. Schließlich setzte er sich zu ihr und streichelte mit seinen Fingerspitzen ihre Knie. Sie zog sie fort, verdeckte ihr Gesicht an der Wand.
— Bitte, flüsterte Walter, versteh das doch, ich habe eben gedacht, ich könnte vielleicht, verstehst du, gegen meine Natur …
Die Worte kamen im richtigen Tonfall. Nina beruhigte sich und ließ sich von ihm bei den Schultern nehmen. Sie saßen lange auf dem Boden. Nina verlangte von ihm, dass er ihr noch einmal alles ganz genau erklärte, und Walter sprach so wohlüberlegt und überzeugend, dass er sich beinahe selbst glaubte. Er sei schwul, das wisse er schon lange, aber er habe eben einmal sehen wollen, ob es auch mit Frauen funktioniere. Er habe gedacht, dass er mit der richtigen Frau, zum richtigen Zeitpunkt … Nein, sie sei dabei nicht sein Versuchskaninchen gewesen. Ein Versuchskaninchen bedeute einem nichts. Aber ja. Nur eben nicht … Ja, genau. Sie müsse das verstehen. Nichts liege ihm ferner, als sie zu verletzen. Er habe damit deshalb so lange gewartet, weil er sich vor ihrer Reaktion gefürchtet habe und, wie er jetzt sehe, nicht zu Unrecht — Nina lächelte traurig. Ja, das Telefonbuch. Einen kräftigen Wurf habe sie übrigens. Sie scherzten ein wenig und er fuhr ihre Schultern entlang, die sich schon ein wenig entspannt hatten. Mit einigem Ärger stellte er fest, dass sich ihr Rücken gut anfühlte und dass er, trotz der aufgewühlten Situation, trotz der Tränen und seines gespielten Geständnisses, Lust bekam, ihr den Pullover abzustreifen und ihre Haut zu küssen, sie auf seinen Wangen und auf seinem Kinn zu spüren, ihren herben, vertrauten Geruch, wenn sie erregt oder durcheinander war. Frauen, durcheinander. Es hing bei ihnen ja alles irgendwie mit dem Mond zusammen, dachte er. Emotional, wechselhaft, abhängig von Wolkenkonstellationen und der Anzahl sichtbarer Sterne. Abhängig von der Stunde des Tages.
Diese Gedanken brachten seine lästige Erregung wieder zur Ruhe. Er stand auf. Nina fragte ihn, ob das jetzt das Ende sei, also, sie verstehe ihn und es tue ihr leid, irgendwie, diese ganze Sache. Und er habe ihr nichts Böses antun wollen, so viel sei ihr klar.
— Aber bleib noch ein bisschen, bitte, sagte sie.
Walter ging, aber er kam am nächsten Tag wieder. Und blieb. Nina machte Kaffee und fragte ihn aus, so wie sie es immer getan hatte. Nur diesmal über seine Homosexualität. Welcher Männertyp ihm am besten gefalle?
— Nur nicht so schüchtern, sagte sie bitter.
Er habe gerade sein Coming-Out hinter sich, sagte sie, also sei gerade ein neues Zeitalter angebrochen, da könne er ihr doch wenigstens das verraten. Ach, wirklich? Nein! Sie nämlich auch. Und wenn sie dann gleichzeitig reinlich und schmutzig waren, irgendwie beides zugleich. Ein wenig von beidem. Ja, sicher, nicht zuviel. Und habe er sich von ihr angezogen gefühlt? Es sei schon in Ordnung. Bestimmt. Ein wenig, aber nicht genug. Natürlich, das sei in der Tat nicht ausreichend für eine Beziehung. Sicher, sie verstehe schon. Niemand könne seiner Natur entkommen. Welcher Typ sei ihm lieber, Orlando Bloom oder Benicio del Toro?
Walter war das Gespräch anfangs unangenehm, und er improvisierte, so gut er konnte, dann allmählich entspannte er sich. Er hatte noch nie über solche Dinge nachgedacht. Er musste zugeben, dass es sich nicht falsch anfühlte, darüber zu sprechen. Aber es begann ihn auch schnell zu langweilen. Nina war gerade erst in Fahrt gekommen, da stand er schließlich auf und wollte gehen.
Schnell stellte sie ihre Kaffeetasse auf den Tisch und fiel ihm um den Hals.
— Bitte, sagte er und berührte ihren Arm.
Sie ließ ihn los, wischte in ihrem Gesicht herum, als kämen aus allen möglichen Poren Tränen hervor. Sie begleitete ihn noch bis zur Wohnungstür, wo sie das Telefonbuch vom Boden aufhob und sich unter den Arm klemmte, während sie ihm die Tür aufsperrte.
Als Walter hinterher in einem Café saß, um von der eigenartigen Szene auszuruhen, kam ihm alles, was er gesagt und getan hatte, sehr unwirklich vor. Alles war viel zu schnell passiert, im Zeitraffer, so wie in uralten Dokumentarfilmen, in denen berühmte Monarchen wie Wassereidechsen über die Weltbühne trippelten.
Verloben, Heiraten oder Kinderkriegen, solche Gedanken hatte er sich schon lange abgeschminkt. Wenn er sich vorstellte, wie er langsam all diese Geschlechterrollen annahm, in diesem Gehege aus verkrampften, wahnsinnigen, erwachsenen, leidenschaftslosen und im Kern ohne Zweifel bösartigen Entscheidungen, wurde ihm schlecht. Ehen. Was war so toll daran? Der Mann kommt am Abend nach Hause, aus der Welt der offenen Plätze, der Nahkämpfe, der Überlebensstrategien, der Verantwortungen, der Geschworenenblicke, der Überwachungen, lässt Hut, Mantel und Schuhe an der Haustür zurück und tritt ein in die Welt seiner Frau, lädt sie den ganzen Abend lang auf, während sie ihm die müden Bürofüße massiert, mit heiteren und lehrreichen Anekdoten und Eindrücken von da draußen, träumt dann ein wenig in seinem Schaukelstuhl und spricht mit leiser Stimme in ihr Ohr. Er blickt durch die Tür in das dunkle Kinderzimmer auf die kleinen, atmenden Körper unter der Decke. Das Licht eines Scheinwerfers huscht über die Wände und er ist zufrieden. Er lässt sich mit einem schweren Seufzer, der seinem Alter nicht angemessen ist, in einem Sessel unweit des Heizkörpers oder des Kamins nieder. Er winkt nach seiner Frau. Sie wischt sich die Hände an der Schürze ab und kommt zu ihm. In ihrer Gegenwart wird er für ein paar Augenblicke wieder kindlich, hilflos und blind, er erfindet Geschichten, wahre Begebenheiten mit einem erfundenen Ende, das ihn selbst überrascht und friedlich stimmt. Wenn es spät wird, leistet er sich ein oder zwei obszöne Ausdrücke und lacht. Er lässt sich von der Frau mehrmals bestätigen, dass dies alles sein Zuhause ist, diese Wände, dieses Klavier, diese Wohnzimmergarnitur, dieses verstaubte Ahnenporträt, dieser erloschene Kamin. Er lächelt über ihre weibliche Ungeschicktheit, wenn sie auf der TV-Fernbedienung eine zweistellige Kanalnummer eingeben soll. Dann, sehr spät, im Schlafzimmer, überwältigt er sie, als sie einen Augenblick nicht aufpasst. Er schlägt ihr auf die Hinterbacken und riecht begeistert an seiner Hand. Die ganze Nacht wandern die fächerförmigen Streifen von Autoscheinwerfern langsam über die Wand. Im Nebenzimmer liegen die Kinder und schlafen. Auch seine Frau ist vor Erschöpfung eingeschlafen, nachdem er mit ihr fertig war. Aber er, ein tragischer Fels der Einsamkeit, liegt lange wach, neben ihm schnarcht das geliebte Geschöpf, und er sagt sich, dass er dies alles geschafft hat. Am nächsten Morgen verschwindet er wieder, kurz bevor die Sonne aufgeht. Sein Leben ist ein ständiges Sich-Zurückziehen aus der einen in die andere Welt. Hoffnungslose Bewegungen eines Pendels. Keines seiner Verstecke verbirgt ihn jemals vollständig. Wenn er an sich denkt, findet er seine ganze Existenz tragisch. Er tätschelt zweimal die von Augenringen beschatteten Wangen seiner Frau und verlässt das Haus. Die Welt der Hausfrau hingegen ist dazu verdammt, fiktiv und völlig beliebig zu bleiben. Niemand sieht, was sie zu Hause macht und mit welchen Dingen sie allein gelassen wird. Ihre Welt ist eine ohne Zeugen. Es gibt sie im Grunde gar nicht, es sei denn, ihr Haus geht irgendwann einmal in Flammen auf und Nachbarn kommen und schauen durch das brennende, zerfallende Gebälk in die Geheimkammern der Ehe. Es sei denn, sie lässt eines Tages irgendeinen spitzen Gegenstand in die Wiege fallen, in der ihr Kind schläft. Wenn Gott existiert, wird dem Kind nichts passieren, und die Waffe findet sich am nächsten Morgen, sauber und blinkend, neben dem gesunden Baby.