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Walter hatte sich die Zähne geputzt. Das Gesicht ganz nahe am Spiegel, betrachtete er die Gänsehaut auf seinem Unterarm. Er kannte sonst niemanden, der auf Kommando Gänsehaut erzeugen konnte. Allerdings nur auf den Armen. Er stellte sich einfach vor, er säße als vierzigjähriger Mann unter einer Kniedecke mit Schottenmuster abends in einem Schaukelstuhl und seine Frau brächte ihm das rosafarbene Baby für einen Gutenachtkuss. Sag Papa schön Gute Nacht.

Lydia

Jede Geschichte aus der Sicht eines Badezimmerspiegels ist eine Liebesgeschichte.

Die vorsichtigen Bewegungen des Rasierapparats auf dem Gesicht, dessen Blick kritisch auf sich selbst gerichtet ist. Salben, Entzündungen. Geplatzte Adern im Auge wie winzige Flussdeltas. Grimassen. Seemannsbärte aus Seifenschaum. Die schwarzen dünnen oder roten dicken Striche, mit denen einsame Comicfiguren am Morgen seufzend ihre Konturen nachziehen. Paare, die sich beim Liebesspiel selbst beobachten. Bei der Verwandlung in einen Vertreter des anderen Geschlechts. Das ungläubige Starren spätnachts, wenn der normale Hausverstand sich von einem geheimnisvollen Novizen mit Tonsur und langen, schwarz gefärbten Fingernägeln vertreten lässt. Die Schrift, die immer wieder erscheint, wenn jemand ein heißes Bad nimmt, eine unnötig oft wiederholte Botschaft, ein sinnloses Wort, achtlos hingeschrieben, etwa: Hallo, oder: Fuck, oder: Spiegel, oder noch besser: Geisterschrift — ein Zugeständnis an die Selbstreferenzialität, die in allen Romanen vorhanden zu sein hat.

Unerklärliche Szenen etwas speziellerer Art: Zwei Menschen, er in ihrem Bademantel (der in einem früheren Leben ein Priestergewand gewesen ist), sie nackt und meerschaumgeboren (auf ihrer Schulter befindet sich noch ein weißer Rest Schaum), und er ist gerade noch vor ihr gekniet, jetzt spült er sich den Mund aus und sie sieht ihm dabei zu, ungläubig, voller Unverständnis: Bin ich wirklich so ekelhaft, bin ich unhygienisch? Das Balancierspiel mit den Kontaktlinsen, der Kampf gegen die nervös flatternden Augenlider, die blind zuschnappen wie die Mäuler kleiner, verängstigter Tiere. Der Mann, der sich im Spiegel betrachtet, während er pinkelt. Aus seinem Körper ragt ein kräftiger Urinstrahl von der Form einer durchgebogenen Angelrute und er grinst über sich selbst: Ha, das bin ich, tatsächlich ich, mein dummes Grinsen.

Und ganz zuletzt dieses junge, konzentrierte Gesicht, spätnachts. Das Licht geht an im Hintergrund.

— Bist du im Bad?

— Ja.

— Was machst du … weißt du, wie spät …?

Er drückt mit seiner Hand müde in seinem Gesicht herum, findet endlich die Augen, reibt.

— Geh ruhig wieder schlafen, sagt sie. Ich hab was im Auge.

— Was?

— Was im Auge.

— Und?

— Und es tut höllisch weh.

— Ach so. Lass mich dir helfen … warte …

Aber seine Bewegungen sind noch verschlafen und grob, auch scheinen seine Hände für ihr schmales Gesicht viel zu groß, seine Finger spinnenartig und zittrig. Er tastet auf ihren Wangenknochen herum.

— Lass mich, ich kann’s schon selbst.

Sie wendet sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Er verschmilzt augenblicklich mit dem Hintergrund, wie Tiere bei Nacht, verschwindet im dunklen Wohnzimmer.

— Soll ich dir wirklich nicht helfen?

— Nein, sagt sie, ich mach schon … Und sonst, auch egal. Wenn ich’s nicht rausbekomme. Warten wir eben ein Jahr … oder zwei … und dann hab ich eine Perle …

— Was?

— Eine Perle. Die darfst du dann ernten.

Er erscheint noch einmal in der Badezimmertür, aber er sieht nicht so aus, als hätte er ihren Satz verstanden. Schade, denn es war ein sehr hübscher Satz, denkt Lydia. Das Beste, was sie heute Abend von sich gegeben hat. Unschlüssig betastet er den Türrahmen, als wollte er sagen: Hier irgendwo muss ich durchgekommen sein, auf meinem Weg hierher. Dann wankt er zurück in die Dunkelheit und träumt weiter.

Wie alle Glühbirnen auf diesem Planeten so sind auch alle Badezimmerspiegel miteinander verbunden, man könnte auch sagen: vernetzt.

Noch immer etwas durchgefroren von meinem Heimweg durch die winterliche Stadt, stand ich in der Dunkelheit und betrachtete mein fast unsichtbares Spiegelbild, und Lydia plätscherte in dem vom Warten bitter gewordenen Badewasser.

— Es tut mir leid, sagte ich leise.

Ein kurzes Plätschern war die Antwort. Lydia stieg aus der Wanne. Meine Augen hatten sich bereits ein wenig an die Dunkelheit im Bad gewöhnt und ich wurde Zeuge eines seltsamen Bildes: Lydia kratzte sich auf der nackten Brust, sogar recht heftig, das lange Liegen im Wasser musste ihre Haut gereizt haben. Die Brustwarze schlüpfte zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch.

— Idiot, sagte sie und ging an mir vorbei ins Wohnzimmer. Du hättest anrufen können.

— Hab ich doch.

— Ja. Einmal.

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und trat mit meinen Socken in ihre feuchten Fußspuren.

Als ich Lydia kennen gelernt habe, hatte sie ihre schlimmste Zeit bereits hinter sich. Begonnen hatte es mit sechzehn. Sie fühlte sich in ihrem Körper nicht mehr wohl. Die Wangen waren eingefallen, ihr Hintern war zu fett, alles an ihr war zweitrangig und unangenehm. Eine von der Natur im Scherz gemachte Kopie einer hübschen Frau. Sie stand vor dem Spiegel und hasste sich, hasste den Spiegel, dann wieder sich. Langsam, je länger sie sich anstarrte, verwandelte sie sich in ein Monster. Manchmal trieb sie dieses selbstzerstörerische Geduldspiel so lange, bis sie ihr eigenes Gesicht gar nicht wiedererkannte. Es war dann das Gesicht einer scheußlichen Puppe aus einem anderen Jahrhundert.

Sie hatte mit dem Spiegel einen Pakt geschlossen, so wie andere Leute einen Pakt mit dem Teufel eingehen.