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Anfangs schminkte sie sich sehr stark, dann half auch das nichts mehr. Sie rasierte sich den Kopf, aber das Haar wuchs nach. Sie begann abwechselnd alles in sich hineinzustopfen und zu hungern. Gott sei Dank hatte sie in einem hellsichtigen Moment ihrer frühen Kindheit eine Panik vor dem Erbrechen entwickelt; sie blieb vor Bulimie verschont. Aber ihr Kreislauf litt unter den ständig schwankenden Essgewohnheiten, und sie konnte sich bald auf nichts mehr konzentrieren. Sie musste eine Klasse wiederholen. Diese Erfahrung warf sie endgültig nieder. Unheimliche Träume drängten sich in ihr Leben, konfrontierten sie mit einem Haufen unverständlicher Drohungen und ließen sie mit der Qual der Deutung allein, ohne irgendeinen Hinweis auf ihre Entschlüsselung. Sie suchte Rat bei Therapeuten, von denen die meisten professionell-unbeholfen mit ihr umgingen. Einer ließ sie kleine Papierflieger bauen und leitete aus der Form der flugunfähigen Gebilde allerhand ab. Ein anderer veranstaltete Hypnosespiele, bei denen Lydia so gut mitspielte, wie sie konnte. Wenn sie die Geduld verlor, log sie ihm irgendwelche Geschichten vor, und der Therapeut war darüber so glücklich wie über einen Strauß frischer Wiesenblumen. Der letzte Therapeut, zu dem sie gegangen war, erzählte ihr viel von sich. Er sei früher Lokführer gewesen. Ja, wirklich. Dann habe er, einfach aus Lust und Laune, einen Selbsterfahrungskurs gemacht, der sein Leben von Grund auf verändert habe. Ob sie vielleicht ein Glas Wasser wolle? Sie sei so weiß im Gesicht, da bekomme man ja direkt Angst.

Die von den vielen Therapien verwirrte und geschwächte Lydia beschloss daraufhin, dass kein Ausgang aus der Wirklichkeit existierte, so wie man es ihr versprochen hatte. Es war alles in Wahrheit viel einfacher und sie fühlte, dass sie damit Recht hatte: Es gab nur das hier, eine dünne Besiedelungsschicht auf dem europäischen Kontinent — denn einen anderen als diesen würde sie vermutlich niemals besuchen.

Niemals besucht haben.

Sie begann allmählich, von sich selbst in der Vergangenheit zu denken. Missmutig und mit den letzten Kräften an Konzentration und Selbstbeherrschung schloss sie die Schule ab. Sie wollte keine unaufgerollten Fäden zurücklassen. Das wertlose Dokument wurde eingerahmt und an die Wand im Esszimmer gehängt. Ihre Mutter freute sich und das war gut so. Mochten andere sich freuen. Mochten andere bei Verstand bleiben angesichts der ganzen Schweinerei, die dieses Leben war. Mochten andere den Tod tolerieren wie ein drittes Ohr, das einem angeboren war. Mochten sie sich freuen, sie alle, Feste feiern und sich vermehren, angesichts dieses himmelschreienden Betrugs, der darin bestand, dass alle Menschen ununterbrochen und langsam vor sich hin starben, dass keiner ihrer Wünsche jemals erfüllt wurde, egal, was sie auch anstellten; angesichts des großen, sinnlosen, schwarzen, ebenfalls im Sterben begriffenen, dreidimensionalen Raumes, angesichts dieser geschichtslosen Seichtheit, dieses riesigen Achselzuckens. Sie lag lange wach und kaute diese Gedanken immer und immer wieder durch. In diesen Nächten verwandelte sie sich zurück in ein hilfloses Wickelkind. In eines mit den richtigen Argumenten, dachte sie, die schlimmste Sorte Wickelkinder.

Im Grunde war sie ja komisch, fand sie, auf gewisse Art und Weise. Ein trauriger weiblicher Clown.

Sie schrieb einen Brief, in dem sie ihren Selbstmord ankündigte, da war sie einundzwanzig Jahre alt. Aber sie fand den richtigen Ton nicht. Sie besserte tagelang an dem Schriftstück herum, das sie in ihrer Kommode verbarg. Schließlich gelangen ihr ein paar glänzende Formulierungen, die in etwa den niederschmetternden Inhalt ihrer Nachtgedanken widerspiegelten. Sie ertappte sich dabei, wie sie den Abschiedsbrief mehrere Male hintereinander durchlas und sich an manchen Formulierungen erfreute. Der souveräne Ton der Verachtung, der in einem Satz wie Nachher kommt nichts, das weiß jeder Säugling steckte, gefiel ihr, und sie schrieb einen zweiten Brief, immer noch mit Absender, der schon in den ersten drei Zeilen die Gewissheit offenbarte, seine Verfasserin sei inzwischen tot und gegen jegliches Lob für seine großartigen Formulierungen immun.

Sie entwarf vier verschiedene Fassungen des Briefes und konnte sich nicht entscheiden, welche die wirkungsvollste war. Welche ihre Verzweiflung und ihren Lebensüberdruss am besten zum Ausdruck brachte. Einen Augenblick dachte sie daran, ihren ehemaligen Deutschlehrer zu fragen, der sich mit solchen Dingen auskennen musste, verwarf aber den Gedanken gleich wieder. Er würde sie nur in eine Anstalt einweisen lassen.

Nach zwei Wochen hatte sie die sechste Fassung vollendet. Der Brief bestand jetzt nur mehr aus dem Mittelteil, der Begründung, und war nun gar kein Brief mehr. Da sprach eine einzelne Stimme über allgemeine Dinge, die jeder kannte. Das Wort Selbstmord kam nicht einmal mehr vor, obwohl er sich, wie Lydia fand, immer noch deutlich aus dem Geschriebenen ableitete.

Das Leben hat keinen Sinn außer der Tatsache, dass es einen Sinn hat.

Sie musste wohl oder übel zugeben, dass ihr dieser Satz sehr gefiel. Er war eindeutig wahr und entbehrte auch nicht einer gewissen Eleganz. Immer, wenn sie sich elend fühlte und den Augenblick einigermaßen für gekommen hielt, Ernst zu machen, rief sie ihn sich ins Gedächtnis und ließ ihn dort aufblitzen wie eine Rasierklinge, die man im Sonnenlicht dreht. Das hatte sie geschrieben. Ganz allein, ohne Hilfe. Ein Satz, der sich in den eigenen Schwanz biss wie eine dieser metaphysischen Schlangen auf Amuletten.

In der ersten Zeit unserer Beziehung träumte ich eines Nachts, dass ich sie besuchen ging. Aber anstelle ihrer Zimmertür war da eine große vakuumversiegelte Spezialtür. Man erklärt mir, dass Lydia ab heute in einem Bunker wird leben müssen, eineinhalb Kilometer unter dem Erdboden. Ich frage, warum. Ich beginne einen Streit mit den Wachmännern, die, wie sich herausstellt, gar keine Wachmänner sind, sondern einfache Handwerker (aber wozu dann die Pistolen an ihren Gürteln?), die das Ziffernschloss an der Tür einstellen sollen. Eine neue Kombination muss gefunden werden, etwas, das Lydia niemals herausbekommen wird.

Ehe ich’s mich versehe, mache ich einen Vorschlag.

Einer der Männer sieht mich verblüfft an; ich schäme mich sofort. Sein Blick sagt: Sieh an, zuerst kommt er, um sie zu besuchen, und weil das nicht geht, will er mithelfen, ihr ein ewiges Mausoleum zu bauen. Sieh an.

Die Männer gehen nicht auf meinen Vorschlag ein. Ich bin erleichtert. Sie werfen sich abwechselnd lange Ziffern zu, wie die berühmten Primzahlzwillinge. Und vielleicht sind es auch Primzahlen. Ich frage: Sind das Primzahlen? Derselbe Wachmann/Handwerker/Richter wie vorher schlägt mit einem Hammer auf etwas vor ihm in der Luft, als wollte er zur Ruhe ermahnen, und blickt mich durchdringend an. Diesmal sagt sein großes rotes Gesicht etwas wie: War das gerade Höflichkeit? DU willst zu MIR höflich sein? Hab ich mich verhört? Wie tief willst du eigentlich sinken?

Ich flüchte, gehe schnell den Gang hinunter, durch den ich gekommen bin, Richtung Ausgang. Als ich mich noch einmal umblicke, sind die Männer schon nicht mehr zu sehen, denn Zimmereinrichtung, Möbel, Wandspiegel und schwebende Töpfe mit üppig überfließenden Hängeschopflilien haben den Korridor hinter mir völlig zugewuchert. Das ist das Ende, denke ich, das Ende, oh mein Gott

Aber das Ende ist erst jetzt in Sicht. Lydia ist ausgezogen und kommt nur manchmal vorbei, um mich und meine Wohnung zu kommentieren.

Ich verabschiede mich von Martina, indem ich sie auf einen Kaffee einlade. Sie sagt, sie sei mit jemand anderem zusammen, letzten Winter, damals, das sei nur … — eine ausweichende Geste vollendet den Satz.

— Sicher, sage ich. Ich hab das auch nicht anders gesehen. Aber …