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— Aber ich bekomme Besuch, sagt sie mit etwas veränderter Stimme.

Gerald sagt diese Stimme offenbar mehr als mir, denn er sieht zu mir auf, als wollte er sagen: Nicht weiterreden, bitte. Mama hat Kopfweh.

— Herrgott, was zum Teufel ist mit Ihnen los? fahre ich sie an und erreiche damit, dass der Türspalt sich wieder öffnet und ein Gesicht von hellroter und entsetzt nach Luft schnappender Empörung zeigt.

Noch bevor sie etwas sagen kann, stoße ich die Frau im Bademantel zurück in ihre Wohnung, sodass sie auf ihren Hintern plumpst, und ziehe, da mir zum Abschluss nichts Besseres einfällt, die Tür von außen zu. Der Erntedankkranz hebt sich kurz, wie ein Türklopfer.

Ich gehe an Gerald vorbei und laufe die Treppe hinunter. Er steht oben und schaut mir nach, hin und her gerissen, unentschlossen wie ein Fahrstuhl, der zwischen zwei Stockwerken festklemmt.

— Na, komm schon, sage ich und klopfe mir mit der flachen Hand auf die Knie, als wollte ich eine scheue Katze anlocken.

Er schaut noch einmal auf die Wohnungstür, die sich nicht mehr geöffnet hat — auch mir fällt das jetzt auf —, und folgt mir. Seine Schritte beschleunigen sich. Das Eis in seiner Hand ist geschmolzen. Ich reiche ihm ein Taschentuch.

— Mein Gott, was für ein Tag, sage ich. Schau, da oben ist der Mond noch zu sehen, dabei ist es längst hell.

Gerald blickt in den Himmel. Die bleiche Scheibe ertrinkt dort oben im Blau, an manchen Stellen ist sie schon ganz aufgelöst und durchscheinend. Die trockenen Meere der Mondoberfläche stehen unter Wasser.

— Hast du gewusst, frage ich ihn, dass sie die Krater dort oben Meere nennen? Aber an einem Tag wie heute schaut man besser nicht in den Himmel. Der Himmel lenkt nur ab. An so einem Tag kann wirklich alles passieren. Wahrscheinlich gibt es eine riesige Warteschlange vor der Bushaltestelle, wo wir anstehen müssen, und wir fragen uns: Woher kommen diese vielen Menschen? Natürlich wollen sie alle zur Hochzeit, denn es ist ein warmer Herbsttag, und da macht das einen Riesenspaß. Ja, es geht nichts über Hochzeiten, die bei warmem Wetter im Freien stattfinden werden. Schau nicht so überrascht, ich denke nur laut. Und natürlich ist uns das Stehen in der Warteschlange unangenehm, weil man überhaupt nichts tun kann, um es erträglicher zu machen. Inaktivität ist eine notwendige Bedingung, damit ein Zustand Warten genannt werden kann, und es gibt auch keinen Schutzheiligen der Warteschlangen, zu dem man ein stolzes Gebet emporschicken könnte. Nein, man kann niemanden anrufen, wenn man in der Endlosschleife einer Telefonseelsorge-Hotline feststeckt oder wenn die Zeit in einem Krankenhauskorridor auf einmal stehen bleibt und sich nicht einmal mehr eine Fliege über die immer gleichen Fensterscheiben bewegt. Warte einen Moment, bleib stehen. Dein Kragen ist ganz schief, lass mich … Niemand ist da, dem man den Wahnsinn anvertrauen könnte, der leise in einem aufsteigt, kennst du das Gefühl? Unter den Tausenden Heiligen, die es auf Erden gibt, ist keiner, der diesen Job übernehmen will. Warteschlange gehört nämlich nicht zu den anerkannten Formen von Leid und Erniedrigung, eine Warteschlange hat immer etwas von einem Experiment, etwas Nacktes, Primitives, Abgedecktes. Es wäre nichts Besonderes, wenn man sich einfach in die Hose machen würde. Lach nicht, das ist gar nicht witzig. Natürlich, würden dann die Leute sagen und sich gleichzeitig die Nase zuhalten, er kann nicht anders, er muss ja seinen Platz in der Schlange behalten! Nein, es gibt wirklich keine Spielregeln in einer Warteschlange, von der Reihenfolge abgesehen: Ameisen haben sie erfunden. Und wir vergessen irgendwann auch, warum wir anstehen. Es spielt keine Rolle, sage ich zu dir, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. Ein paar Meter hinter mir wartet eine Mutter mit zwei kleinen Kindern, die um ihr Leben schreien. Und direkt vor mir steht — breiter Rücken, glänzender, verschwitzter Nacken — ein abgeschminkter Clown, der mir seinen freundlichen, verschwitzten Ochsennacken anbietet. Die empfindlichste Stelle. Und wir stellen plötzlich fest, dass alle sich über irgendwas freuen, ja, alle Menschen sind fröhlich und füllen sich die Hosentaschen mit Nüssen, um für die Fanfare Da Nuces gewappnet zu sein.

— Danutz?

— Da Nuces. Das heißt: Gib Nüsse. Ja, ich hab auch lachen müssen, als ich das zum ersten Mal gehört hab. Das Brautpaar schreitet unter einem Schleier dahin, girlandenverziert wie der Garten und die Gäste, und die von weither gereisten Verwandten mit dem Familiengesicht sehen alle so aus, als trügen sie unsichtbare Papierkronen auf ihren Köpfen. Das Hochzeitspaar selbst ist in überirdisches Blau gekleidet, die Farbe des Himmels, zumindest hier auf der Erde. Vom Mond aus betrachtet ist der Himmel schwarz wie das Innere eines Kleiderkastens. Kinder laufen herum, gehören scheinbar nirgendwohin, spielen ständeübergreifende Spiele im angrenzenden Gartenlabyrinth. Oder nein. Im hintersten Winkel des Gartens, wo sich Rosenhecken schütteln, obwohl sie nicht nass sind.

Da Gerald mir nicht mehr zuhört, drücke ich den Lautstärkeregler auf meiner inneren Fernbedienung. Wenn ich das tue, beginne ich zwar meist mit den Zähnen zu knirschen, weil die Worte so leichter zu hören sind, aber ich will niemanden verscheuchen, zumindest jetzt noch nicht. Ich höre mich sagen:

— … und ein Junge in Rot ist der einzige Mann unter den Kindern. So ein Junge wie du, Gerald, der mit Ästen auf andere Menschen schießt und sich die Finger so nah an das Auge hält, bis die ganze Welt zu einer Ameise wird, die man zerquetschen kann. Der Junge wird zunehmend verwirrter und wilder, weil die Mädchen ihm andauernd ihre Zöpfe vorhalten und ihn daran ziehen lassen. Er weiß anfangs gar nicht, was er davon zu halten hat, ständig laufen sie ihm durch die Hände, diese festen, wie Stroh knisternden Zöpfe. Sein Gesicht wird davon ganz rot und benommen, er beginnt zu schwitzen in seinem heißen Sonntagskostüm und jagt den Mädchen schnaufend durchs kniehohe Gras hinterher. Und die Mädchen lassen sich von ihm weiter an den Zöpfen ziehen. Warum tun sie das nur, denkt er, er rennt ihnen keuchend hinterher, er ist schon ganz taumelig, will ihnen richtig wehtun, ihnen die Zöpfe ausreißen. Er sieht sich Hilfe suchend nach seinem Vater um, der ihn irgendwann gnädigerweise einfängt, ihn erlöst von dem seltsamen Spiel, in dem alles erlaubt ist, aber gleichzeitig alles unbekannt und gefährlich. Die Mädchen mischen sich wieder kichernd unter ihre Familien. Ihre Köpfe, die empfindsame Haut und die Nacken tun ihnen zwar weh, aber sie sagen nichts, beklagen sich nicht, werfen sich nur bedeutungsvolle Blicke zu. Sie lassen den Schmerz so stehen, wie er ist, denn sie haben getan, was nötig war. Oder es ist gleich eine ganze Gruppe Jungen da. Und eine Gruppe Mädchen. Eines der Mädchen kommt auf die Jungen zu. Diese bemerken sie und beginnen sofort herumzualbern, fallen übereinander her, nehmen einen von ihnen, den schwächsten, der gleichzeitig der Klassenclown ist, in den Schwitzkasten, und der Klassenclown wehrt sich gar nicht, sondern winkt fröhlich seinen Zuschauern zu, so wie er es immer tut, wenn es ihm schlecht geht: mit einer Hand, winke winke, von der erhöhten Bühne des Augenblicks hinunter in den finsteren Theatersaal. Das Mädchen macht eine eindeutige Geste: Sie fährt sich mit dem Zeigefinger quer über die Kehle. Kopf ab. Die Jungen erstarren. Der Klassenclown hört auf zu winken.

— Ist er das?

Einen Augenblick bin ich verwirrt und stehe von der Wartebank auf. Da fährt der Bus wieder los, und ich setze mich hin, als würde mich der Ruck des anfahrenden Busses in den Sitz drücken.

— Ja, das war er. Gehen wir zu Fuß, sage ich. Entschuldige, ich hab nicht aufgepasst.

— Alex?

— Ja, was denn?

— Du knirschst mit den Zähnen.