— Ist mir noch nie aufgefallen.
— Ich kann auch mit den Zähnen knirschen. Willst du mal hören?
— Nur zu.
— Nnnng … Ach, jetzt hast du mich rausgebracht, jetzt kann ich es nicht mehr.
Er hält sich den Unterkiefer fest.
— Meinst du so? frage ich und lasse ein Knirschen hören, das selbst mir die Haare aufstellt.
— Ich hab das auch einmal gekonnt.
Meine Gedanken wandern wieder fort, erschaffen eine Szene bevorstehender Peinlichkeiten.
Ein paar Männer in grünen Anzügen zücken ihre Handys und halten sie wie salutierende Schwerter über das schneeweiße Hochzeitspaar. Aus den piepsenden Lautsprechern ertönt der Hochzeitschor aus Lohengrin. Piep-pip-pip-Pieeep. Niemand kennt den Text, aber alle singen mit, nachdem sie die Melodie erkannt haben:
— Naah-Na-Na-Naaaah!
In Wirklichkeit sind all die Handys kleine, standhafte Nussknacker. Ich würge einen von ihnen. Die Augen der Gäste weiten sich. Die Mädchen sind verschwunden, ebenso die Girlanden auf den Bäumen. Die Rosenbüsche schütteln sich vor Abscheu. Mein Vater ist zu einem kleinen schwarzen Kofferradio geschrumpft.
— Warte, ich geb dir Nüsse. Da! Da Nuces! Pueris!
Der Nussknacker gibt Geräusche von sich, als würde er ertrinken.
Ich werde in Ketten abgeführt. Mein Vater unterschreibt eine Erklärung.
Die Sache geht durch alle Instanzen. Ein kletterndes Insekt von enormer Tragweite, ein Giftschimmelpilz, der die besorgten Bewohner von Sitzungszimmern und unterirdischen Raketenstützpunkten bedroht. Schon am folgenden Tag erscheint der Präsident im Fernsehen. Eindringlich spricht er von einer neuen Gefahr, die sich wie ein Parasit am Nährboden der Gesellschaft festgebissen hat. An einer Hand zählt er die Grundpfeiler der Demokratie und des Friedens auf. Der Daumen ist die Selbstbeherrschung, das Rückgrat moderner Gesellschaften.
Eine rhetorische Pause.
Dann macht er denselben Trick noch einmal mit seiner linken Hand. Diesmal ist die Selbstbeherrschung der kleine Finger. (In seiner Freizeit spielt der Herr Präsident Klavier, deshalb denken seine Finger in einer anderen Reihenfolge als wir.)
Anschließend wird er konkreter. Einige Male fällt mein Name, im Zusammenhang einer weitschweifigen Analyse des enormen Potenzials an Subversivität, das Kindern aus zerbrochenen Familien eigen ist. Er zitiert Hegel über den universellen Zusammenhang zwischen Familie und Staat. Letztendlich sei dieser Unterschied nichts anderes als eine Frage der verwendeten Teleskoplinse.
Der Präsident atmet aus.
Präsidenten und Präsidentinnen. Es ist eine Gefahr unter uns. Wir dürfen uns davor nicht verschließen, sonst zermalmt sie uns. Es ist Zeit zu handeln.
Dreimal, in beschwörender Langsamkeit, nennt er meinen vollen Namen, spricht den Nachnamen sogar richtig aus, mit einem langen E.
Und wenn wir an unseren Fernsehgeräten zuhause genau hinsehen — und nichts anderes bleibt uns übrig —, erkennen wir in seinen Augen die zarten Reflexionen des Teleprompters, diese großen weißen Wörter, die langsam aufwärts schweben, als wären sie an Luftballons gebunden, stetig aufwärts, wie die vielen Namen im Abspann eines Films.
Gerald und ich gehen am Stadtpark vorbei, durch eine kleine Allee. Jetzt erst fällt mir auf, was ich da mache. Ich gehe mit einem Nachbarskind auf die Hochzeit meines Vaters. Ein Knoten öffnet sich in meinem Kopf, wie eine Rose.
— Alex?
— Ja, was mache ich jetzt wieder? Ich gehe, oder?
— Nein, ich müsste mal aufs Klo.
— Du müsstest oder du musst?
— Ich muss.
— Jetzt? frage ich im Tonfall seiner Mutter und halte ein imaginäres Cocktailglas in die Höhe.
Ich erwarte, dass er zumindest ein wenig lächelt, aber er erkennt die Parodie nicht.
— Jetzt, sagt er.
Ich lasse das Cocktailglas fallen.
— Na, dann geh hier irgendwo, ich meine … wird schon nicht verboten sein … vielleicht hinter einen Baum.
— Aber Alex …
— Ich stelle mich als Wache hin.
— Okay. Aber du musst dich umdrehen.
Ich blicke durch die Baumreihe auf parkende Autos und ein kleines, von innen prächtig erleuchtetes Eigenheim, aus dessen Dach eine massive Satellitenschüssel wächst. Hinter mir plätschert es. Nach einer Weile frage ich die Autos und das große Metallohr mit der blasphemischen Aufschrift SatAn:
— Bist du bald fertig?
Keine Antwort. Kleidergeräusche, Gürtelschnalle.
— Alex?
— Ja?
— Du bist total ungeduldig.
Ich trete auf eine Kastanienhülle und schiebe sie unter der Schuhsohle hin und her.
— Ja, stimmt.
— Komm ja schon.
Gerald kommt, sich das Hemd in die Hose steckend, hinter dem Baum hervor. Schweigend gehen wir weiter bis ans Ende der Allee. Ein lauter Rap-Song fährt mit heruntergelassenen Seitenfenstern an uns vorbei.
Gerald wird langsamer und beugt sich über etwas, das am Boden liegt. Zuerst kann ich nichts erkennen, dann bemerke auch ich es: Ein kleines Schiffchen aus Zeitungspapier, etwa so hoch wie ein Bleistift.
— Wollen Sie es kaufen?
Eine Frau ist hinter einer der noch unbeklebten Litfaßsäulen hervorgetreten, die jemand in unschuldiger Inspiration mit dem Wort Fuck verziert hat. Schlaffe Hautsäcke hängen unter ihren müden und kraftlosen Augen. Ihre Frisur ist ein wirres Storchennest, sie trägt ein Paar alter Turnschuhe und einen schmutzigen orangen Overall mit der rätselhaften Aufschrift Stahlstift und konzentrischen Urinflecken um die Hosenbeine; wie Jahresringe, an denen man die Dauer ihrer Verwahrlosung ablesen kann. Der äußerste Ring ist der hellste und dürfte ungefähr eine Woche alt sein — das sagt mir meine Erfahrung aus der Zeit im Altersheim. Aber das alles ist tausend Jahre her und natürlich kann ich mich auch irren. Um das Handgelenk trägt die Frau ein weißes Klinikarmband.
Sie fixiert Gerald.
— Wollen Sie es kaufen? fragt sie ihn freundlich.
— Gerald, komm, sage ich.
Die Frau geht uns ein paar Schritte nach.
— Wollen Sie –
— Nein, danke, sage ich.
Ich ziehe Gerald am Ärmel.
— Aber ich muss mir doch eine Fahrkarte kaufen, ruft uns die Frau nach. Sonst verpasse ich alles …
— Sie müssen sich was zum Anziehen kaufen.
Die Frau denkt über meine Worte genau nach, dann antwortet sie:
— Ich habe Hunger.
— Hier, sage ich und krame eine Münze aus meiner Tasche. Kaufen Sie sich was zu essen.
Die verwirrte Frau blickt zurück zu dem kleinen Schiffchen, das immer noch auf dem Asphalt steht, unverkauft, zwischen dunklen Kastanien und ihren grünen Hülsen. Ihre schmutzverkrusteten Finger picken die Münze aus meiner Hand, dann geht sie zu ihrem kleinen Schatz zurück, hebt ihn auf und steckt ihn in eine Tasche ihres Overalls. Ich nutze die Gelegenheit, um Gerald mit mir fort zu ziehen. Erst als wir schon außer Sichtweite sind, lasse ich seinen Ärmel los.
Da er sehr still geworden ist, sage ich in einem bemüht nebensächlichen Ton, als würde ich eine beruhigende Diagnose stellen:
— Eine arme Frau. Verwirrt. Hat wahrscheinlich kein Zuhause. Und abhängig dürfte sie auch sein –
— Ja doch, unterbricht mich Gerald, als würde er diesen Satz nun schon zum hundertsten Mal hören.
Seit ich ihn losgelassen habe, fingert er nervös an seinem Pullover herum. Vielleicht habe ich ihn ausgeleiert. Schließlich entscheidet er sich dafür, beide Ärmel hochzurollen. Und er hat Recht damit. Auch mir ist ziemlich warm geworden.