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Auf dem letzten Wegstück verlaufen wir uns mehrmals, obwohl ich eine Wegskizze auf den unsinnigen Zettel mit den vielen, vielen Zahlen gezeichnet habe: Um Gerald zu unterhalten und um meine eigene Nervosität mit kleinen Fluchtspielen zu vertreiben, tue ich gelegentlich so, als würden wir verfolgt, und renne durch offen stehende Haustüren in fremde Innenhöfe, wo ein majestätischer Wäscheständer steht wie etwas irrtümlich Eingefrorenes oder ein geometrisches Blumenbeet von einem kleinen, todernsten Nicht-Betreten-Schild bewacht wird. Gerald geht mir jedes Mal nach und lacht, wenn ich mich peinlich berührt umdrehe, als wollte ich sagen: Wieder geirrt. Die verwirrte Frau hat er längst vergessen.

Ich werde eine Bombe hochgehen lassen, denke ich, mitten in der Zeremonie.

Mein Herz schlägt wild, als wir an einem Polizisten vorbeikommen. Der Polizist ahnt nichts von der Bombe. Er geht weiter, ohne mir nachzulaufen. Für ihn bin ich einfach ein Mann, der … der mit … der mit seinem …

— Nessun Dorrrrma, singe ich vor mich hin.

Mein Ohrwurm wird schriller und lauter, je näher wir unserem Ziel kommen.

— Ma il mio misteeero è chiuso in meeee

— He, Alex!

— Was?

— Du singst.

Und schon ist unsere Reise zu Ende, die kleine Vorübung für eine gemeinsame Flucht nach Panama. Das muss der Garten sein. Menschengeräusche, entferntes Gelächter hinter einem alten Trafikgebäude, das schon lange nicht mehr bewohnt ist. Ein auf orangefarbenem Papier gedrucktes, großformatiges Einladungsschild mit einer gezeichneten Hand:

In dem Garten steht ein großer, schräg aus dem Erdreich ragender Baum, der sich in leidenschaftlicher Erstarrung an den Verlauf einer Wasserader anschmiegt, weil er ohne sie nicht leben kann. Der Anfang muss unerhört einfach gewesen sein für ihn, denke ich, man besteht aus reinem Wachstum, Rankenwerk, schwingt sich als einzelnes, zweigdünnes Etwas in die Höhe, und, egal wie dünn die Sonnenstrahlen fallen, man bekommt immer genug Licht, und wenn es Abend wird, erstarrt man einfach in der eingenommenen Position, eine ausdrucksstarke Arabeske in der Dunkelheit. Aber diese Zeiten sind vorbei, die Langsamkeit hat endgültig von ihm Besitz ergriffen, und allem, wonach er sich sehnt, wächst er mit ungeheurer Anstrengung entgegen: Jeden Augenblick ist es etwas anderes, was sein Interesse weckt, deshalb sind seine Äste auch so verwinkelt. Ein flauschiger Vogel, ein Garten voller Gäste, eine herrenlose Brille, die über den Himmel flattert.

— Alex?

Drei Stufen führen zu einem kleinen Tor, auf dem sich das glücklich verliebte Einladungsschild wiederholt, ein wenig kleiner nur und ohne die Hand. Und seltsam, über die Stufen führen zwei Metallrampen. Gerald sieht keinen Grund, hier haltzumachen, aber ich bleibe noch eine Weile vor dem hüfthohen Tor stehen, schaue auf die Uhr, beuge mich hinunter, öffne meine Schuhbänder und binde sie neu. Dann richte ich mich auf, gehe ein paar Schritte, durch das kleine Tor und über den beginnenden Gartenweg, auf die Menschen am anderen Ende des Gartens zu, von denen Gott sei Dank niemand aufschaut. Ich bleibe stehen und wiederhole das Spiel mit den Schuhbändern.

— Jetzt komm, sagt Gerald. Du trödelst.

Ich richte mich wieder auf, tramontaaaate stelle, und ein kurzer Schwindel befällt mich, sekundenlange Dunkelheit, wie vom Schatten eines langsam dahinziehenden Vogels. Der rasende Mondschatten einer Sonnenfinsternis. Komm jetzt, wir gehen nach Hause. Ist ja schon vorbei. Alles überstanden.

Ich sehe Gerald an. Was mache ich nur? Können wir umkehren?

Noch nicht vorbei, noch nichts überstanden, buchstabiert die Gesellschaft dieser bunt gekleideten Menschen, die in einiger Entfernung darauf warten, dass ich mich unter sie mische, in sie eintauche, ihnen ausweiche, mit ihnen zusammenstoße, sie anspreche: Nein, kein Angehöriger, nur der Sohn. Ja, der. Der lang verschollene. Ganz genau.

Jetzt verstehe ich auch, warum ich Gerald mitgenommen habe.

Ich versuche mir die Doppelschleife in meinen Schuhbändern räumlich vorzustellen. Zwei Schleifen, nichts Weltbewegendes, drehen sich in Zeitlupe, dann schlüpft die eine unter der anderen durch — aber dann wird das Bild unscharf und die Schleife kommt auf der anderen Seite nicht mehr richtig hervor. Alles ist ein wildes Durcheinander, ein Knoten.

Ich starre auf meine Füße.

Wenn ich die Zehen ein wenig bewege, kann man es sogar durch die Schuhe hindurch sehen. Ein interessanter Effekt. Trotz der Härte des Materials, aus dem meine Wasser abweisenden Schuhe gemacht sind. Trotz der Schwäche meiner Zehen, die ja nur der äußerste Rand meines Körpers sind und kaum Muskeln haben.

Wieder gehe ich ein paar Schritte.

Zu meiner Erleichterung sehe ich aus der Entfernung weder meinen Vater noch Hannelore. Sie werden entweder von den Gästen, die in kleinen Gruppen herumstehen, verdeckt und vor unautorisierten Blicken abgeschirmt, oder sie sind tatsächlich noch nicht da, werden vielleicht als allerletzte kommen und sich einläuten lassen wie ein Königspaar.

Um den Hals mancher Gäste baumeln, wie ich beim Näherkommen feststelle, Foto- und Filmkameras.

Eine junge Mutter ist auch da, mit einem Kinderwagen. Bestimmt ist es gesund, Kinder auf Hochzeiten mitzubringen. Oder es bringt dem neuen Paar Glück. Kindersegen für Halbgeschwister. Downsyndrom, sabbernde Idioten, Gehirn außerhalb der Schädeldecke, lebensunfähiges, zappelndes Wesen. Hier, das ist deine Halbschwester, berühr sie doch. Keine Angst, sie hat zwar keine Haut, aber sie spürt trotzdem, dass du da bist. Komm, trau dich.

Mit dem Alter steigt das Risiko. Auch mit dem Alter des Mannes?

Hannelore, wie alt mag sie sein? Zu jung. Alte, schwitzende, widerliche Männer und ihre jungen Frauen. Alte, verbrauchte Lippenbekenntnisse. Und wenn ein Gott in seiner Qual verstummt. Vor dieses Tages noch geschlossner Blüte.

Messerschmidt lacht

Messerschmidt lachte: sanfte Vibrationen des bevorstehenden Endes. Es war nun überstanden. Das Herumirren in der neuen Wohnung, den zugigen Räumen seiner Tochter, war sinnlos geworden, und auch die alte gab nichts mehr her. Heiterkeit, Gelassenheit kündigten sich an, warfen einen sanften Lichtschein auf sein altes, abgekämpftes Gehirn, das finster und zerfurcht im Eis feststeckte wie ein ausgedientes Kriegsschiff.

Die Hündin hatte ihn lange hinter sich hergeschleift, bis er am Ziel angelangt war. Dann war sie verschwunden.

Die Rundgänge waren ab sofort einzustellen, so friedlich wie möglich. Aber im Grunde war selbst das egal. Es blieb ohnehin kein Fingerabdruck von ihm zurück, nirgends. Trotzdem: so friedlich wie möglich. Nicht wie diese verrückten Spielzeugautos, die man mit einer Fernbedienung durch fremde Zimmer steuerte, in Gedanken eins mit dem winzigen Piloten, der auf ein Tischbein oder den schwarzen Briefschlitz eines VHS-Rekorders zufuhr.

Jetzt wurde er gedreht, er fühlte es. Es war noch so viel in ihm, Flüssigkeit, Substanz, was seine Lage verändern konnte. Wie eine Wasserwaage. Sehr viel Leid.

Ein warmer Stoffballen, vielleicht ein zusammengeknülltes Hemd, tupfte über seinen Rücken, seine Hüften, seinen Hintern. Wie warme Küsse, unanständige Berührungen an einer kalten Steinstatue. Göttinnen. Sie besaßen keine Po-Ritze, nur eine leichte Vertiefung, glatt und einfärbig, zwei zusammengesteckte Apfelhälften, Halbkugeln aus Marmor.

Eine Nadel wurde in seinen Arm gepflanzt und blieb dort.

Marmor, dachte es in ihm. Zeit. Steinerne Hallen, Monumente, Bauten. Untergang des Römischen Imperiums. Geheimagenten des Glaubens in den Katakomben mit dem verbotenen Fischsymbol auf den fackelflackernden Wänden.