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Das vergnügte Gesicht eines Kindes. Gerald. Sohn von Jessica Katzek, die sich in der Toilette eingesperrt hatte, laut mit der tief hängenden Decke redete und sich in diesem Augenblick schwor, eine bessere Mutter zu werden, wenn Gott, dieser elende, rachsüchtige Mistkerl mit seinem Sonnenfinsternis-Daumen, ihr nur ihren Sohn wiederbringen würde, hast du gehört, du fieses Arschloch da oben im Himmel? Eine bessere Mutter! Seine Kinderhand mit der bunten Armbanduhr schlug im Takt gegen seinen Oberschenkel. Das Lied gefiel ihm. Er trug Valeries letzte Augenblicke in der Tasche. Die Hilfeschreie der flüchtenden Hündin, die Schläge des Metallstabes. Er würde die Bilder jemandem zeigen, der sie wieder jemandem zeigen würde, und so ging es ewig weiter, bis weit über den Horizont hinaus. Dann würde er selbst erwachsen werden und die Rolle eines Vaters einnehmen, ein Vater, den er nie gekannt hatte und der auch gar nicht existierte — aber da war wieder das Knirschen von schwarzem Glas und das Quietschen von LKW-Reifen, und das Bild des Landfriedhofs, sehr fern, mit gespenstisch leuchtenden Grabsteinen, die zwischen Himmel und Erde schwankten wie betrunkene Schiffslaternen, spannte sich auf wie ein dunkler Regenschirm.

Jetzt!

Rechtzeitig. Messerschmidt stürzte sich in den Abgrund und verlor sich im Verstand des jungen Mannes, in dem alles im Kreis ging, im Verstand des jungen Mannes, der neben Gerald stand, weil er rechtzeitig abgebogen war,

weil er sich verlor, weil er gerade noch rechtzeitig

in den Abgrund der Trauer, die kreisförmig

sich nach unten und wieder nach oben

schmerzvoll windenden

Valerieruinen –

Das Lied

Mein Vater, im Rollstuhl. Unter weißen Gartengirlanden. Seine schwarzen Lederhandschuhe. Sein weißes Sakko, wie zur Erstkommunion. Sein sonnenbeschienener Hinterkopf unter einem von Kondensstreifen sanft verschnürten Himmel.

Jetzt fällt mir ein, dass er im Lokal nie aufgestanden ist. Seine Erzählungen von Reisen und Wanderungen. Eine Folie aus Schweiß auf seiner Glatze, darüber die Splitter von Sonnenlicht, das durch die Blätter der Bäume fällt. Auch auf seinem Nacken, der von den Schulterpolstern des Sakkos verlängert wird, spielen die Sonnenflecken, jeder Windstoß lässt sie durcheinanderpurzeln wie die Glieder eines Mobiles.

Die Metallräder des Rollstuhls knirschen sanft.

Er und Hannelore führen die vorgeschriebenen Bewegungen und Rituale aus, sprechen das, was der Priester ihnen vorsagt, einsilbig nach, sehen einander an. Ihre Bewegungen sind die Spiegelbilder der seinen, so hebt sich alles gegenseitig auf, wird zu einem Nullsummenspiel.

Sie stehen mit dem Rücken zum Publikum, als wäre das Ganze ein Abschied, und gleich geht irgendwo eine Tür auf, durch die man in eine andere Welt gelangt. Sie haben nichts mehr mit uns zu tun. Wir sind Hinterbliebene.

Sie stecken sich die Ringe gegenseitig an. Bei den dicken Fingern meines Vaters ist das recht schwer. Schließlich gelingt es. Er blickt auf den Ring an seinem Finger, dann lässt er die Hand sinken.

Das alles passiert gar nicht wirklich. Ich schaue auf den leeren Plastiksessel neben mir. Ein kleines Papierstück liegt darauf, vielleicht eine Reservierung.

Als ich wieder aufblicke, lösen die Vermählten gerade ihre Gesichter voneinander. Wer weiß, was sie jetzt noch zu besprechen hatten.

Der Priester sieht zufrieden aus. Die Vermählten drehen sich jetzt um, der Geistliche hilft ein wenig mit dem Rollstuhl. Jetzt erst entdecke ich die Spuren im Gras, die das schwere Gerät auf seinem Weg zum Traualtar im Grünen hinterlassen hat: niedergedrückte Halme, wie die Kriechspur einer scheuen Gartenschlange.

Mein Vater unter den Hochzeitsgästen. Um mehrere Stockwerke kleiner als die meisten Gratulanten, glänzt sein kleiner, roter Kopf sie von unten an, lacht und glänzt, antwortet laut auf ihre unwichtigen Fragen und Bemerkungen, denn es gibt an diesem Tag keine Nebensächlichkeiten, alles muss aufgenommen werden, bevor es, feierlich von ihm gestempelt, wieder zurückgehen kann. Von irgendwo kommt eine blaue Sonnenbrille geflattert und lässt sich auf seinem Gesicht nieder. Später schiebt er sie sich auf die feuchte Stirn.

Er balanciert mit seinem Rollstuhl, seine kräftigen Arme bewahren ihn mit seiltänzerischer Sicherheit davor, in den schmutzigen Kies des Gartens zu stürzen, in den die Requisiten dieses spätsommerlichen Nachmittags zu fallen beginnen: Zigarettenasche, Tropfen von Sekt, der über zu gierige Lippen geronnen ist, Stückchen von Papierschlangen, die sich die Leute über die Schultern gelegt haben, zerrissene oder zerknüllte Einladungen.

Voll Energie turnt mein Vater auf zwei Rädern vor einem der viel zu hohen Tische mit dem Punsch, hinter dem ein griesgrämiger Mann steht, lässt sich von seiner neuen Frau ein Glas einschenken und prostet allen zu, auch wenn in diesem Moment niemand außer mir zusieht. Seine Trinkgeste gilt trotzdem ihnen allen, der ganzen Welt, die ihn in diesem hellen Garten besuchen gekommen ist.

Er hat mich schon gesehen, mich offiziell erkannt, aber seinen Blick immer gleich wieder gesenkt, als fürchtete er, mich dadurch zu vertreiben.

Dann steht er vor mir. Gerald und mein Vater sind exakt auf Augenhöhe.

Man könnte ein Brett mit einer kleinen, zufriedenen Wasserwaage auf ihren Köpfen balancieren.

Nachdem er die Fassung wiedererlangt hat, erkläre ich meinem Vater sehr umständlich, dass es sich nicht um sein Enkelkind handelt. Er schaut gequält und weigert sich, mir zu glauben. Er rollt fort, und ich sehe ihn sich mit Hannelore unterhalten.

— He, Gerald, sage ich.

— Was?

— Du bist total rot im Gesicht.

— Wer war das? fragt er.

Eine Frau, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, erzählt mir zusammenhanglos von ihrer Tochter und geht offenbar davon aus, dass ihre Geschichte für mich eine gewaltige und lange erwartete Neuigkeit darstellt. Sie holt oft Luft, gestikuliert viel und bildet Sätze, wie andere Leute Leitern aufstellen.

An manchen Stellen ihrer Erzählung über den neuen Freund ihrer Tochter (Dreadlocks, groß, sehr mager, mit leichtem Bartflaum auf der Oberlippe) erlaubt sie sich auffällige Wortwiederholungen oder macht zwischen einzelnen Satzteilen so lange Pausen, dass man meinen könnte, sie sei über einen Ohrstecker mit Agenten in einem schwarzen Lieferwagen verbunden, von denen ihr die richtigen Formulierungen vorgesprochen werden.

Außerdem ist sie sturzbetrunken und muss sich an ihrer Zigarette festhalten, um nicht umzufallen.

— Und Sie wissen ich wissen Sie … bin nicht die Art von Mutter, die … wissen Sie?

Sie sieht mich sehr bedeutungsvoll an. Dann rutscht etwas in ihr, das sich lange an einem Felsvorsprung festgehalten hat, ab und ihre Beine knicken ein. Sie hält sich an meinem Arm fest.

— Nüstert? schlage ich vor.

Sie sieht mich fragend an. Es ist mir einfach so eingefallen. Ein wenig hat mich wohl ihr Pferdegesicht inspiriert. Die Agenten im Lieferwagen blättern eilig in einem Konversationslexikon, finden das Wort aber nicht.

— Also, sagt sie.

Das Füllwort verklingt und die sonnenbebrillten Agenten in dem unauffälligen Lieferwagen hören auf zu blättern, legen das Buch beiseite und raten zum Rückzug.

— Nüstert, wiederhole ich. Nein, das hätte ich ja auch nicht gedacht, ich meine … immerhin sind Sie ja bei einer Hochzeit, oder?

Was ich sage, ergibt nicht den geringsten Sinn, aber überraschenderweise macht es sie glücklich. Sie gluckst, möchte ihr Glück artikulieren. Aber es kommt nichts. Mit hängender Unterlippe wartet sie darauf, dass die richtigen Worte wie ein Sardellenschwarm aus ihrem Mund schwimmen.

— Ja, sagt sie schließlich. Si’am Recht.