Lange Pause, während der sich die Agenten beratschlagen. Dann:
— Sie kenn mei’e Tochter?
Der Agent, der diesen Satz gesagt hat, zuckt hilflos mit den Achseln und schaut entschuldigend auf seine Kollegen. Alle blicken ihn böse an. Was hast du jetzt wieder angerichtet?
— Nein, nicht persönlich, sage ich. Nur vom Nüstern eben.
Aber die Frau hat mir gar nicht zugehört. Sie blickt über ihre Schulter auf einen nichts sagenden Ausschnitt des Holzzauns. Wieder rutscht sie auf sich selbst aus, und diesmal berührt ihr Hintern für einen Augenblick sogar den Boden. Aber sie überspielt es, so wie Betrunkene ihre Missgeschicke überspielen: ohne Scham und beinahe froh über das bisschen Bewegung.
— Kenn’ Sie das auch? sagt sie mit etwas veränderter und gefestigter Stimme. Kenn’ Sie das, wenn Sie durch so ein … so ein Nest aus Kälte gehen? Da war’s grad … Wenn’s ganz kalt wird, als wär da wer durchgegangen durch die ganze …
Sie zieht die Schultern hoch, deutet vage auf die Umgebung.
— Nein, Entschuldigung …
Ich reiße mich von ihr los und gehe in Richtung Bar davon. Gott sei Dank dreht sie sich nicht nach mir um, denn sie sucht immer noch die Ursache für ihre plötzliche Gänsehaut in den Sträuchern, die den kleinen Privatgarten in unregelmäßiger Dichte umwachsen und abschirmen. Ich stelle mich etwas abseits der Gäste auf und tue so, als würde ich telefonieren. Da beginnen meine Handflächen zu brennen, und auch die Schuhe krampfen sich über meinen Zehen zusammen. Was zum Teufel habe ich hier noch verloren? Ich muss Gerald wieder zurückbringen. Bestimmt habe ich mich inzwischen strafbar gemacht: Angriff auf eine wehrlose allein erziehende Alkoholikerin, Verschleppung eines ahnungslosen Kindes, Belästigung einer Hochzeitsgesellschaft.
Wie zur Bestätigung meiner Befürchtungen beginnen die Gäste mit den Vorbereitungen für ein Preislied. Man nimmt Aufstellung, putzt sich imaginären Staub von den Schultern, legt eine Hand auf den Bauch.
— Nach dem Lied gehen wir besser, sage ich zu Gerald.
— Okay.
— Gerald?
— Ja?
— Kein Tanzschritt, versprochen?
— He, jetzt, wo du’s sagst …
Die Gesellschaft beginnt zu singen. Es ist ein zutiefst albernes Lied, das zu einer volkstümlichen Musik gesungen wird.
Hoheute ist ahein Juhubeltag,
freut euch alle seeehr.
Jubeltag ist noch zuwenig gesagt,
jubelt noch viel mehr.
Lihiebe ist ahein schöhönes Ding,
drum haltet sie gut fest.
Auf dass euch die Liebe viel Segen bringt
nach dem Hochzeitsfest.
Eine ältere Frau singt so falsch, dass sie sich selbst aus dem Konzept bringt und ständig nach dem Störenfried Ausschau hält, wer trifft denn da den Ton nicht? Gerald muss das Lachen zurückhalten. Ich warte.
Bis ich plötzlich bis in die Fingerspitzen erstarre, meine Adern werden quecksilbrig und kalt. Mein Pulsschlag wird zum Knirschen eines im Packeis feststeckenden Kahns. Der Schüttelfrost, der mich befällt, ist zwar gleich wieder vorbei, aber er hat den Garten, die Hochzeitsgesellschaft und auch die Melodie des harmlosen Hochzeitslieds verändert. Ein wenig wie die Sonnenverdunkelung, damals, mit meiner Mutter auf der Hauptbrücke. Veränderte Farben, ein Fehler in den Feinabstimmungen der Konturen. Geralds Gesicht ist lustig und traurig zugleich. Das Lied ebenfalls.
Nihiemand soll dieses schöhöne Paar
auseinander ziehn.
Nihiemals soll dieses schöhöne Paar
aus der Welt fortgehn.
Ich nehme Gerald bei der Hand.
— Es reicht. Gehen wir.
— Aber das Lied ist doch noch nicht zu Ende!
— Wir gehen jetzt, sage ich.
Mehr Silben lassen meine Zähne nicht mehr durch. Kälte, Angst und Kiefersperre sind dasselbe. Ich atme schwer, ich schleppe Gerald hinter mir her. Er wehrt sich kaum, denn das Lied strebt gerade seinem albernen Höhepunkt zu, und die Frau mit der schrillen Stimme droht zu zerplatzen und sämtliche Weingläser mit sich in den Tod zu reißen. Aber Gerald hat sich nach den Hochzeitsgästen umgedreht, während ich mit seinem Ärmel in der Hand davongehe.
Fort. Bloß fort, denke ich. Es wird noch zu spät.
Obwohl es gar nicht wirklich spät ist. Der Abend ist noch jung. Die Sonne hängt immer noch sichtbar am Himmel, eine mit jeder Minute schwerer und dunkler werdende Frucht. Und trotzdem ist es jetzt wirklich kalt geworden. Vielleicht ist es mir vorher nur nicht aufgefallen.
Gerald rollt seine Ärmel wieder über die Unterarme. Er blickt kurz auf seine Kinderuhr, kratzt sich am Handgelenk. Ein Windstoß stiehlt sich an uns vorbei.
Jetzt sind wir schon außer Sichtweite. Ein fremder Hund ist aus einem Gebüsch aufgetaucht und trabt uns ein paar Schritte nach. Egal, denke ich, er wird schon irgendwo hingehören. Hier gibt es viele Hunde. Ich hebe ein paar Kastanien vom Boden auf und werfe sie über das niedrige Trafikgebäude, hinter dem das Fest ohne uns weitergeht. Ich werfe eine weitere, sehr große Kastanie. Dann folgt die zusammengeknüllte Wegbeschreibung.
Da!
Gerald tut es mir nach.
Der Hund sieht der Flugbahn der Kastanien nach, aber es ist kein Stöckchen, deshalb rennt er ihnen nicht nach.
Die Kastanien schwirren durch die Luft, glücklich darüber, endlich etwas Sinnvolles tun zu dürfen. Aber ein Aufprall ist nicht zu hören, auch nicht die wütenden Stimmen von Menschen, die am Kopf getroffen worden sind. Denn wir, Gerald und ich und, in einigem Respektsabstand, der fremde Köter — drei Lebewesen, die sich schnell aufwärmen müssen, bevor es dunkel wird —, beginnen zu rennen, an einem LKW vorbei, der gerade noch, in letzter Sekunde, stehen bleibt, über die viel und dicht befahrene Straße, während der geradezu unendliche Verkehr für einen Augenblick die Luft anhält.
End Credits
Es wird mit dem Summerton neunzehn Uhr siebenundzwanzig Minuten und zehn Sekunden.
Die Temperatur in der Allee beträgt 24 Grad Celsius, und die Lichter in den Nachbarhäusern gehen langsam, eins nach dem anderen, aus. Die Autos schalten ihre Scheinwerfer ein und beleuchten sich gegenseitig.
Die hinter der Fensterscheibe gefangene Biene ist eingeschlafen und träumt von feuchten, goldenen Sechsecken.
Das seit Wochen schräg stehende Verkehrsschild in einer ruhigen Straße nahe des Volksgartens wird von ein paar Jugendlichen geradegerichtet. Dabei fällt ein Witz über den schiefen Turm von Pisa.
Ein junger Mann mit Brille, der über seine eigenen Zehen nachdenkt, setzt sich an seinen Schreibtisch und beginnt, einen langen Roman zu schreiben. Ein Modellflugzeug landet vor ihm auf dem Tisch, in der Kanzel ein winziger Pilot.
Eine Kastanie fällt in ein alleingelassenes Glas Sekt.
Ein schwarzer LKW, der jahrelang unruhig durch die Welt gerast ist, biegt um die Ecke und löst sich auf.
Eine Japanerin mit wunden Fingerknöcheln fällt müde in ihr Bett, neben den schlafenden Körper ihres Freundes. Sie rollt sich zusammen und presst ihre Fäuste gegen die Oberlippe.
Eine junge Frau hinkt an ihrem Stock durch eine leere Wohnung, blickt auf den kalten Garten hinaus und schließt mit besorgtem Gesicht alle Fenster.