— Nein, sagt sie.
— Nein? Zu was?
— Nein zu dem, was du mich fragen wolltest.
Zur Untermauerung ihres Standpunkts stellt sie die Kaffeetasse auf den Tisch, aber sie lässt ihren Mittelfinger in dem Henkel stecken.
— Bist du nicht auch … wie war ihr Name?
— Lydia. Nein, nicht mehr.
Der Mittelfinger löst sich von der Tasse.
— Aber du warst doch ziemlich lange mit ihr zusammen, oder?
— Ja.
— Wie habt ihr euch kennen gelernt?
— Na ja, dazu müsste ich weit ausholen … Ungefähr so!
Ich imitiere die beschworene Geste, als würde ich mit der Faust zu einem Schlag ausholen, und Martina zuckt zusammen. Sie stößt mit ihren Knien von unten an die Tischplatte, dass es klirrt.
Ein Weltbürger ohne Welt
Walter fand in seinem alten Kinderzimmer einen verstaubten Nussknacker und steckte ihm kurzerhand einen Finger in den Rachen, als wollte er ihn dazu bringen, sich zu übergeben. Zum Spaß machte er ein paar Würgegeräusche. Dann verlor er das Interesse und stellte den Nussknacker vor sich auf den kleinen Schreibtisch, an dem er vor vielen Jahrhunderten seine Hausaufgaben gemacht hatte.
Im Grunde interessierte ihn sein altes Zimmer nicht, aber er wollte heute nicht mehr nach unten gehen. Er hatte Angst, dass mit der obligatorischen Klärung der Frage, was diese Frauengeschichte gewesen sein mochte (Mirja war ein unverbesserliches Plappermaul), auch die älteste aller alten Leiern wieder losgehen würde — der Beruf. Er hatte seinen Eltern nicht einmal erzählt, unter welchen Umständen er als Schauspieler gearbeitet hatte. Schon allein die Vorstellung, ihnen das alles erklären zu müssen, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Er betätigte den Brunnenhebel des Nussknackers.
— Mamamama, sagte der Nussknacker lautlos.
Für seinen Vater, einen bekannten Architekten, hatte es nie einen Zweifel gegeben, dass Walter ein hochbegabtes Kind war. Seit er die Schule beendet hatte, musste er alle paar Jahre zähe Zukunftsgespräche über sich ergehen lassen, weil sein Vater es einfach nicht lassen konnte, ihn für diverse Praktika und Stipendien vorzuschlagen. Natürlich konnte man das irgendwie auch verstehen, dachte Walter. Was sollte der alte Mann sonst mit den vielen Beziehungen anfangen, die er in seinem Leben angesammelt hatte. Er kannte einfach alle, Leute aus den Medien, prominente Leute, Leute mit seltenen Krankheiten, die damit berühmt geworden waren, Leute, die in Kriegen als Fotografen unterwegs gewesen waren, Leute mit Villen, die in ihrer beispiellosen Pracht sogar das Russellsche Paradoxon erfüllten und größer waren als sie selbst. Einmal, als er etwas betrunken gewesen war, hatte er Walter erzählt, dass er die Nummer einer Prostituierten kenne, die sich darauf spezialisiert habe, die Söhne einflussreicher und wohlhabender Männer zu entjungfern. Sie heiße Conny und der Stundentarif sei — aber Walter hatte die Ziffer längst vergessen.
— Aber Papa, das ist ganz einfach. Ich kann diese Arbeit nicht mehr machen, weil ich … na ja … für diese Art von Arbeit muss man ein wenig gelenkiger sein als ich.
— Gelenkiger?
— Im Kopf, meine ich. Ich bin dafür einfach zu träge. Mir fällt nichts ein.
Sein Vater starrte in eine Ecke. Er ließ das Gehörte einwirken, dann verfinsterte sich seine Miene. Die Spitze seiner Nase wurde rot und glänzend.
— Aber das kommt mit der Zeit schon, meinte er.
— Nein, es kommt nicht!
— Jetzt schrei nicht gleich, sagte sein Vater. Meine Güte, als hätte ich dich zu irgendwas gezwungen.
— Nein, gezwungen hast du mich nicht.
— Wenn du nicht Regisseur werden willst, dann gibt es auch vor der Kamera genug Platz. Da bring ich dich schon unter.
— Papa.
— Ist ja schließlich nicht zuviel verlangt, nein, das wirklich nicht. Ich verstehe, glaub mir, ich verstehe dich. Regie führen ist nicht jedermanns Sache. Die einen gehen darin auf, die anderen glänzen vor der Kamera. Du hast ein ausdrucksstarkes Gesicht, fast wie ein Dirigent.
— Wirklich? sagte Walter schwach.
— Ich bringe dich unter, verlass dich drauf.
— Aber … muss es denn unbedingt Schauspieler sein? Ich meine –
— Ja, was bleibt denn noch übrig, Himmelherrgott? Schreiben willst du nicht, sagst du. Bitte, das akzeptiere ich. Und Journalismus, wo es ja aufs Schreiben nicht ankommt, kannst du auch nicht! Damit du mich jetzt nicht falsch verstehst, ich werfe dir das nicht vor. Ich selber kann es auch nicht, obwohl ich mir, wie du weißt, damit lange den Lebensunterhalt verdient habe. Gezwungenermaßen. Damit war ich nicht glücklich, du sollst glücklicher sein. Niemand hat verdient, sich in einem Metier künstlerisch auszudrücken, in dem er nicht zuhause ist.
— Wenn du meinst, sagte Walter.
Er wusste, dass er den Kampf verloren hatte. Nein, noch schlimmer, dass es überhaupt keinen Kampf gegeben hatte. Alles, wogegen er rebellierte, war weich und durchlässig. Er selbst hatte diesen Wunsch unlängst gehabt, Schauspieler zu werden, und nun schlug ihm sein Vater genau das vor. Es gab keine Möglichkeit, ihm auszuweichen. Es war immer alles vorbestimmt. Solange es irgendetwas mit Kunst zu tun hatte, und sein Vater redete ruhig und freundlich auf ihn ein, bis Walter versöhnlich wurde und nickte.
Walter gab dem Nussknacker mit Zeige- und Mittelfinger eine Ohrfeige. Der hässliche Soldat überschlug sich und stürzte zu Boden, wo er sich ordnungsgemäß das Genick brach. Der Hebel lag daneben.
Die erste Ölfarbenausrüstung hatte Walter zu seinem siebten Geburtstag bekommen. Dazu eine echte Leinwand, die man in alter Manier an einem Holzrahmen festnageln musste. Aber vom Geruch der frischen Farben wurde ihm übel und er musste sich erbrechen. Also räumten seine Eltern die Leinwand und alle Malutensilien in den Keller und diskutierten Alternativen; immerhin musste schnell ein Ersatzgeschenk gefunden werden. Sie hatten in einem Ratgeber über Kinderpsychologie nachgelesen und darin einen Absatz über die Bedeutung von Geburtstagsgeschenken gefunden. Ein Geburtstagsgeschenk wieder wegzunehmen, selbst wenn man das Kind damit von einer Gefahr befreie, sei eine heikle Angelegenheit.
Da ihnen Wasserfarben zu banal waren, schenkten sie ihm ein Töpfer-Set. Seine Finger sollten so früh wie möglich geschult werden. Walter war begeistert. Er fertigte ein paar Tassen aus Ton, die ihm erstaunlich symmetrisch gerieten, und als er sie im Ofen unter der Anleitung seiner Mutter gebacken und anschließend glasiert hatte, wollte er, dass die Eltern beim Frühstück daraus tranken, vielleicht nicht immer, aber zumindest hin und wieder. Die Eltern lachten über den sonderbaren Wunsch ihres Sohnes und erzählten ihm, dass man aus Kunstwerken nicht trinkt. Man stellte sie aufs Klavier neben all die anderen künstlerischen Ausdrucksformen des Kindes und führte sie Besuchern vor, die sich dann höflich nach offensichtlichen Kleinigkeiten erkundigten, wie etwa dem verwendeten Material (Ton) oder der zugrunde liegenden Idee (Trinktasse).
Sein Vater wollte, dass er und seine Schwester vielsprachig waren, also schickte er den achtzehnjährigen Walter, der gerade die Matura mühevoll hinter sich gebracht hatte, für ein Jahr nach Paris, wo er Französisch lernen sollte. Englisch hatte er von seiner Mutter gelernt, die viele Jahre in Amerika gelebt hatte.
Er blieb das volle Jahr brav in Paris, traf ein paar ältere Künstler, die seine Mutter noch von früher (begleitet von der Geste eines rückwärts laufenden Karateschlags, der am Ohr in ein Winken übergeht, als wollte man sagen: Du bist mir vielleicht einer …) kannten und die sich sachlich und respektvoll über die Arbeit seines Vaters erkundigten. Seine Unschuld verlor er an Ben, einen jungen Studenten, der das japanische Undergroundkino verehrte. Walter hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass es etwas so Hinreißendes geben konnte wie einen jungen Franzosen, der den Namen eines japanischen Meisterregisseurs wie Shinya Tsukamoto oder Hiroshi Teshigahara auszusprechen versuchte. Er wohnte zeitweise ganz bei Ben, durchforstete mit ihm seine beeindruckende Sammlung von Videokassetten und ließ seine Wohnung in Montmartre verkommen, für die sein Vater weiter aus der Ferne einen ungeheuren Mietpreis bezahlte. Aber da Ben ein paar Kaninchen besaß, gegen deren Haare Walter offenbar allergisch war, wohnte er bald wieder allein.