Gegen Ende seines Aufenthalts war ihm die Stadt zuwider geworden. Er hasste den fauligen Sommergeruch der Seine, die Sirenen der Rettungsfahrzeuge, die mit ihrem bedrohlichen Ganztonschritt Gefahr verkünden, Gefaahr, Gefaaahr; und wenn er aus irgendeinem Grund durch die Tuilerien oder über die Place de la Concorde gehen musste, kam er sich vor wie ein falsch proportionierter Mensch auf einem Kupferstich. Das Einzige, was er wahrscheinlich vermissen würde, waren die weißen, verzauberten Sessel im Jardin du Luxembourg, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schienen, obwohl sie natürlich ganz normale Outdoor-Möbel waren. Sehr oft stellte er sich vor, dass er ein Gespenst verscheuchen musste, wenn er sich hinsetzen wollte. Dann wieder sah er die vielen Touristen und dachte daran, dass sie die Gespenster waren, die durch Materie hindurchgehen konnten und nirgends Halt fanden auf der Welt.
Er war froh, als er endlich abreiste. Im Flugzeug schlief er ein und sah ein verregnetes Fußballfeld, auf dem eine kleine Jacht gestrandet war.
Er verbrachte die ersten Weihnachten wieder zuhause, bei seiner Familie, und wunderte sich, wie er es überhaupt so lange in Frankreich ausgehalten hatte. Ben kam ihm manchmal noch in den Sinn und er schrieb ihm lange Briefe, die allerdings unbeantwortet blieben. Er ertappte sich dabei, wie er im letzten Brief gleich sieben Wörter falsch schrieb und sich bei den Accents vertat. Schon nach ein paar Monaten waren seine Französischkenntnisse auf das Allernötigste zusammengeschrumpft.
Sein Vater verschaffte ihm ein unbezahltes Praktikum als Journalist bei einer großen Tageszeitung. Walter war dort sehr unglücklich. Am meisten kämpfte er mit der vorgeschriebenen Mindestlänge der Artikel. Seinem Gefühl nach hatte er alles Erwähnenswerte bereits in drei oder vier Sätzen gesagt. Dann wies ihn sein Vorgesetzter darauf hin, dass er die Hauptsache, etwa den Namen der Oper oder die Art des zu erwartenden Staatsbesuchs, gar nicht erwähnt hatte und dass obendrein alle Namen falsch geschrieben waren. Walter ließ die Kritik über sich ergehen. Er kniff dabei die Augen zusammen, wie Piloten, die scharfem Gegenwind ausgesetzt sind.
Um sich versöhnlich zu zeigen, fragte der Redakteur, ein Freund seines Vaters, Walter hinterher immer nach Paris. Er war noch nie dort gewesen und Walter gab bereitwillig Auskunft. Ihm fiel auf, dass er sich noch recht gut an alle Straßennamen erinnern konnte. Doch wenn der Redakteur etwas über das Flair oder die Gerüche, die Cafés, in denen angeblich heiß über unbeantwortbare Fragen diskutiert wurde, oder die spezielle Vibration des Lichts wissen wollte, erfand Walter einfach irgendwas. Der Redakteur nahm ihm die Geschichte jedes Mal ab, wenn Walter ein paar französische Ausdrücke einstreute, wo gar keine hingehörten. Eine augenzwinkernde Frage nach den Pariser Frauen (begleitet von einem Ellbogenstoß, der ins Leere ging) beantwortete Walter mit einer solchen Überzeugungskraft, dass er sich selbst gar nicht wieder erkannte. Seine Stimme nahm, wenn er log oder Geschichten erfand, einen besonderen Tonfall an, den nur er allein zu hören vermochte. Es blieb sein Geheimnis. In Wirklichkeit wollte er Paris natürlich so schnell es ging vergessen. Er wollte auch nicht länger dumme Artikel über Dinge schreiben, von denen er nichts verstand und zu denen seine Eltern so differenzierte Meinungen hatten, dass sie sie sich gegenseitig laut am Frühstückstisch vorlasen.
Walter dachte daran fortzulaufen.
Aber es waren die Kinder, die fortliefen, nicht die Erwachsenen und Walter zählte nun schon fast zwanzig Jahre. Das war eine französische Satzkonstruktion gewesen, stellte er fest: Ce sont les enfants qui— ja, was? Fortlaufen … échapper? S’échapper? Entkommen. Es klang irgendwie alles falsch, aber es konnte trotzdem stimmen. Die leere Stelle in seinem Vokabular sorgte für ein seltsam angenehmes Kribbeln.
Er seufzte viel, wenn er allein war. Ihm fiel auf, dass man auf mindestens hundert verschiedene Arten seufzen konnte.
Sein Vater beschenkte ihn zu seinem Geburtstag mit dem Versprechen, sich für eine Assistentenstelle bei einem Regisseur einzusetzen. Da Walter sonst nur einen Alarmwecker geschenkt bekommen hatte und die ganze Familie so glücklich und vollzählig um ihn herum stand, beschloss er, sich zu freuen. Es war leichter, als er gedacht hatte. Er zog die Mundwinkel nach oben und stieß einen anerkennend-heiteren Seufzer aus.
Das Gesicht seines Vaters entspannte sich, lächelte und begann von der Zukunft zu sprechen. Walter aß sein Geburtstagsmahl — Kaiserschmarrn, sein Lieblingsgericht — und hörte seinem Vater zu:
— Eigentlich … bekommt man da ja keine Stelle, wenn man nicht auf der Filmakademie studiert. So. Und natürlich kann man das auch irgendwie verstehen, weil ja sonst alles überlaufen wäre … da ist eine gewisse Regulation sicher nicht unlogisch. Aber. Es sollte doch, finde ich zumindest … und ich bin mir da keineswegs zu schade, mich dafür einzusetzen … es sollte wirklich eine Ausnahme gemacht werden für hochbegabte Menschen, eine Weltbürger-Klausel gewissermaßen.
Er sah Walter erwartungsvoll an, wie alle Menschen, die ein neues Wort an einem Untergebenen ausprobieren. Walter kaute, schluckte. Weltbürger. Was für ein dummes Wort. Aber er fühlte plötzlich, was sein Vater in diesem Augenblick erwartete. Es lag, es legte sich ihm auf die Zunge, dann war die alberne Bemerkung da, hell und unsinnig. Er brauchte es nur noch zu sagen:
— Citoyen du monde!
Sein Vater lachte entzückt auf. Seine Mutter stimmte mit ein. Sogar seine Schwester blickte lächelnd auf den Teppich. Was für ein himmelschreiender Blödsinn, dachte Walter. Es würgte ihn fast vor Scham. Aber alle kauften sie es ihm ab, freuten sich und waren versöhnt.
An diesem Tag hatte er keine Schwierigkeiten einzuschlafen. Im Traum spielte er auf einer kleinen Tigerkatze Gitarre. Davon bekamen seine Finger Haare und er wachte auf. Er hatte eine Idee, aber er verwarf sie gleich wieder, weil es eine dumme Idee gewesen war, eine Kopfgeburt im Halbschlaf. Weil man nicht einfach so Schauspieler werden konnte, nicht einfach so, ohne. Ohne was? Sein müder Kopf spielte eine unscharfe Bilderfolge ab, von Theaterproben, Engagements und Vorsprechen …
Er kuschelte sich zurück in sein Bett. Nicht einfach so. So ohne irgendwas.
Mit Joachim, einem älteren Hobbypoeten, hatte er zum ersten Mal über seinen Schauspiel-Wunsch gesprochen. Nein, das war nicht ganz richtig. Er hatte Joachim seine Gedichte gezeigt, das kurze, hübsche über den Hund und ein paar frühere Sachen. Joachim hatte sie nickend durchgelesen und nichts dazu gesagt. An diesem Abend waren sie beide ziemlich betrunken gewesen, besonders Joachim. Und das war sein Glück, denn er hatte nicht die geringste Ahnung davon, wie sehr er Walter mit seinem Nicken beleidigt und entsetzt hatte. Aber Walter, der nicht unhöflich sein wollte und insgeheim auch dankbar war für die Aufrichtigkeit, die aus Joachims beiläufiger Geste sprach, wagte einen erstaunlichen Gedankensprung, der ihn selbst überraschte.
Er fing an von Schauspielerei zu sprechen. Er nahm große Schlucke direkt aus der Flasche, spürte das angenehm draufgängerische Brennen der Flüssigkeit in seiner Kehle und ließ sich von Joachims inzwischen nur mehr gelallten Äußerungen provozieren.
— Identität ist vollkommener Unsinn, schimpfte Walter. Identität fängt man sich ein wie einen Schnupfen oder einen Ohrwurm oder, im schlimmsten Fall, ein Unterbewusstsein. Ist dir das schon mal aufgefallen, dass alle immer Unterwusstsein … Unterbusstsein …