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Er rang eine Weile mit dem Wort.

Joachim nickte vielsagend.

— Im Grunde braucht niemand, fuhr Walter fort, niemand, kein Mensch, weißt du, zum Leben braucht kein Schwanz eine Identität. Oder ein Unbewusstsein. Alles Scheiße! Diese ganzen Scheißdebatten über Identität und Unterbewusstsein hat … hat … haben aber dazu geführt, dass inzwischen viele, viele Menschen irgendwie durch die Welt rennen und — anstatt das zu tun, wozu sie aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich hier sind, nämlich den anderen, den Mitmenschen die Lebenszeit irngwie erträglicher zu gestalten, irngwie … Und dabei wiederholen sie immer nur, immer nur den einen sinnlosen Satz wiederholen sie, wie einen Zauberspruch gegen Flöhe … Haha! Gegen Flöhe, weißt du? Gegen die eigene Verantwortungslosigkeit: Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?

Er sprach diesen letzten Satz aus wie das Mea Culpa in der Kirche und musste rülpsen.

— Und besonders unerträglich sind diese ganzen Scheiß Identitätsfetischisten, die sich an so einem Scheiß wie Kulturtheorie oder Lit’raturwissenschaft aufgeilen und für die das Größte im Leben ist, wenn man ein Pro’lem mit der eignen Identität hat. Wenn’s nach denen ginge, dann … dann ist der Sinn des Lebens einzig und allein der, herauszufinden, was für ein Mensch man wirklich ist … diese Arschlöcher … Und dann, und dann, wenn einem das klar geworden ist, irngwie … nimmt man dieses unheimlich tolle Wissen und rennt damit glücklich in den Sonnenuntergang. Verstehst du, was ich meine?

Joachim hatte das Kinn auf seine Faust gestützt. Walter suchte einen Satz, den er wie einen Stempel unter seinen letzten Satz setzen konnte.

— Wer nicht zumindest einmal was verloren hat … alles fellohren … haha, Fell-Ohren … nein, ich meine, der wirklich alles verloren hat, der darf … der darf überhaupt nicht mitreden, weißt du, was ich meine?

Joachim wusste es, oh Mann, er wusste genau, wovon Walter sprach.

— Oh Mann, ich weiß genau, wovon du sprichst. Hier. Hier drinnen!

Er legte sich die Hand aufs Herz.

— Freut mich, sagte Walter nach einem Schluck aus der Flasche. Freut mich. Ist gut, wenn sich die Leute verstehen, wenn man bedenkt, wie leicht sie andauernd aufeinander verzichten können, diese Wichser.

Joachim blickte Walter glücklich an. Nimm mich in den Mund, sagte sein einsamer Zeigefinger, mit dem er Walters Ärmel hochschob, damit er auf dessen Armbanduhr ablesen konnte, wie viele Stunden dieser Nacht noch blieben.

Die Panne, erster Akt

Ich habe die Augenbrauen meines Vaters geerbt. Zwei dicht behaarte, schwarze Raupen über meinen Augen, dunkler als mein Haupthaar, dunkler auch als der Prophetenbart, der in naher Zukunft meinem Kopf etwas von einem mürrischen Totenschädel verleihen wird. Bei Gefahr ziehen sich die Augenbrauen zusammen, sodass sie einander berühren, eine kleine, elastische Zugbrücke, knapp oberhalb der Nasenwurzel.

Ich kann, wenn es sein muss, ziemlich ernst schauen.

Der Mund wird bitter und schmal, ein Gedankenstrich zwischen zwei schlimmen Ereignissen, die ohne Grund eng beieinander liegen. Und über die große, runde Stirn, die sonst glatt ist wie ein mit Wasser gefüllter Ballon, ziehen Andeutungen von Falten.

Der Anblick meines Kindergesichts in einer schwach spiegelnden Fensterscheibe. Ein Wintermorgen vor vierzehn Jahren.

Alle Mülltonnen trugen weiße Hauben. Die Straße entlang standen Autos, denen die Schneedecke dieselbe kokonartige Unbeweglichkeit verlieh, wie sie abgedeckten Möbeln in einem unbewohnten Strandhaus eigen ist. Eine Vielzahl von Fußspuren auf dem schmalen Gehweg, der durch den Garten führte, ließ an Käfer im Gänsemarsch denken, und das Geäst der Bäume erschien in dem harten winterlichen Gegenlicht, das der Himmel erzeugte, noch verwinkelter und verworrener als sonst. Ein wenig erinnerte es an misslungene Imitationen chinesischer Kalligraphie. Es schneite zwar nicht mehr, aber die spärlichen Sonnenstrahlen wurden durch einen feinen Nebel gefiltert, der sich besonders um den alten, grauen Kirchturm verdichtete, der seit einem Jahr in einem Baugerüst gefangen war. Draußen in der Kälte räusperten sich die Schneeschaufeln.

Es war Sonntag, ein angenehmer Tag, der sich blau anfühlte, obwohl dieser Morgen schneeweiß war. Nachdem ich aus dem Fenster geschaut hatte, ging ich wieder ins Bett. Die Körperwärme, die liegen geblieben war, empfing mich wie eine Haut, die ich vorübergehend abgestreift hatte, ich legte mich hinein und wurde sofort wieder müde. Unter mir waren die Geräusche von Möbeln zu hören, die verrückt wurden; mein Vater arbeitete im Keller, vielleicht stand er kurz vor einem Durchbruch. Draußen musste es eiskalt sein, denn die Scheiben waren beschlagen, obwohl sie gerade erst letztes Jahr mit neuen Dichtungen versehen worden waren. Ein kleinwüchsiger Mann, der unangenehm nach Salbe roch, hatte sie angebracht.

Ich rollte mich auf den Rücken. Trotz der Müdigkeit würde ich nicht mehr einschlafen können. Das helle Winterbild mit seinen kräftigen weißen Farben hatte mich geblendet, und wenn ich jetzt die Augen schloss, erschien ein dunkelgrüner Hintergrund.

Ich stand auf.

Mit nackten Füßen ging ich durchs Zimmer. Früher Morgen. Eiskalter Boden, Teppich, wieder eiskalter Boden. Ich holte mir meine Sammlung von Spielfiguren mit ins Bett.

Sie fielen in einem Durcheinander aus der kleinen Holzkiste, verbreiteten ihren charakteristischen Geruch nach Plastik und hart gewordenem Industrieleim, der bereits in meinen Handflächen imprägniert war.

Es gab zwei Dinosaurier, denen ich aus kosmetischen Gründen die dünnen Arme gebrochen hatte und die sich seitdem sehr fügsam und brav verhielten. Ohne Arme sahen sie sogar noch ein wenig Furcht erregender aus. Den einen Arm hatte ich einem Elefanten auf den fehlenden Rüssel geschraubt. Spielfiguren überstehen jede Form von Transplantation.

Dann ein berühmter General namens Sunny. Berühmt war er, weil er viele Orden an der Brust trug, ein kleines Quadrat aus Farben, dort, wo man sonst die Hand ablegte, um hochheilig zu schwören oder den eigenen Herzschlag zu spüren. Der General war kleiner als die Elefanten, natürlich, da Generäle immer kleiner sind als Elefanten, egal wie viel Macht sie haben. General Sunny hatte außerdem noch ein Gewehr, das Luftbläschen von sich geben sollte, wenn man es mit Seifenwasser füllte. Aber das war, wie die kurze Lebensskizze von General Sunny auf der Originalverpackung, nichts als eine Legende. Ich hatte es einmal ausprobiert und das Ergebnis war sehr mickrig ausgefallen. Das Wasser blubberte aus dem Lauf der Kanone und tropfte aufs Bett. Meine Mutter entdeckte die Flecken und — sagte nichts. Schaute lange auf die Tropfenspuren und sagte nichts. Dabei war es nur Seifenwasser! Wasser, angereichert mit Seife. Es besaß einen milchigen Schimmer und war beinahe geruchlos, außer man hielt die Nase sehr nahe an den Fleck. Dann roch er natürlich nach Seife.

Es folgten eine Reihe Bauern, einfärbige, aus uralten Spielzeugsammlungen entwendete Soldatenfiguren, deren Beine in einer Art gefrorener Pfütze aus Plastik feststeckten, damit sie besser stehen konnten. Sie bestanden aus nichts als aus Posen und Haltungen. Einer hielt eine Fahne in der Hand und war gerade im Begriff, sie in den Boden zu pflanzen. Ein anderer zielte mit einem Gewehr, das nicht größer war als eine Tannennadel. Ein dritter hockte auf dem Boden und hielt den T-förmigen Fernzünder einer Bombe, gleich würde er ihn betätigen, und — Bumm! — der Staudamm bricht und der Fluss ergießt seine unkontrollierbare Wut über das Land, das Wasser tritt über die Ufer, die Städte versinken und ich, im Marinetaucheranzug, kämpfe mich durch das Volksschulgebäude, das vollkommen unter Wasser steht und in dem ein paar Lehrer gefangen sind. Sie sind über mein beherztes Einschreiten und darüber, dass ich ihnen das Leben gerettet habe, so erstaunt und erfreut, dass sie mich wieder bei sich aufnehmen, in einer eigens für mich eingerichteten fünften Klasse. Ich bin der Klügste in dieser Klasse und ich muss nicht ins Gymnasium wechseln.