Doch am Abend dachte sie plötzlich daran, wie Walter einst als alter Mann durch das Haus der Familie gehen und nacheinander die Lichter in allen Zimmern auslöschen würde. Und niemand wäre mehr da, nur noch er. Ganz allein. Gegen diese Vorstellung half kein Selbsttadel mehr und sie weinte.
Walter hatte Joachim auf die übliche Art kennen gelernt. Wie alle Homosexuellen hatte er eine sehr lange Zeit in der quälenden Gewissheit zugebracht, der einzige Mann auf der Welt zu sein, der so empfand, und naturgemäß sprang nach Ablauf dieses Purgatoriums eine Art Sensor an, der ähnlich empfindende Menschen mit einem besonderen Licht umgab und die Idee, sie anzusprechen, als die klügste erscheinen ließ, die man seit langer Zeit gehabt hatte. Schon nach den ersten zwei Minuten wusste Walter, dass Joachim ebenfalls schwul war, und er signalisierte mit der Art, wie er die Hände faltete, wenn er etwas Wichtiges sagen wollte, dass Joachim auch wissen durfte, dass er wusste, dass er –
Nach einer Stunde sprachen sie bereits offen darüber und fühlten sich beschwingt. Joachim allerdings kühlte schnell wieder ab und bestand darauf, dass sein Leben bisher die Hölle gewesen sei. Walter, sehr mutig, legte ihm eine Hand aufs Knie, was Joachim ein wenig aus der Ruhe brachte, und begann von Büchern zu sprechen. Sein Lieblingsautor war Chris Ware.
— Ein absolutes Genie, sagte er.
Ben hatte ihm damals in Paris die Bücher von Chris Ware gezeigt, die Bände der Acme Novelty Library und den großen Roman Jimmy Corrigan. Walter hatte sich sofort in ihn verliebt.
— Noch nie gehört, sagte Joachim.
Er räusperte sich, zog die Schultern hoch und empfahl Walter im Gegenzug die Bücher von Dennis Cooper. Dann verabschiedete er sich in großer Eile, was allerdings hoffnungslos einstudiert wirkte.
— Warte, können wir vielleicht unsere Nummern austauschen? fragte Walter. Nur für den Fall …
Joachim drehte sich im Gehen um, und sein Gesicht schien zu überlegen, ob es der Entscheidung, die der Rest seines Körpers längst gefällt hatte, folgen würde.
— Null Sechs Sechs Vier, begann er.
Walter tippte die Nummer blind ein und blickte Joachim dabei streng in die Augen, damit dieser nicht plötzlich zu sprechen aufhörte.
Walter besorgte sich die Bücher von Dennis Cooper und begann sie zu lesen, war aber von den Gewalt- und Mordfantasien, in denen sich der Autor ständig verlor, so abgestoßen, dass er damit aufhören musste. Dann nahm er eines der Bücher spätnachts, als er aufs Klo ging, wieder zur Hand und fand sich zu seiner großen Überraschung in ein vor Rührung heulendes Häufchen Elend verwandelt.
Er rief Joachim mitten in der Nacht an und dankte ihm überschwänglich für den Tipp. Dann entschuldigte er sich dafür, ihn aufgeweckt zu haben.
— Schon okay, sagte Joachim.
Mit kuschelig-schlaftrunkener Stimme lud er Walter zu sich ein. Die Tür stehe immer offen, sagte er mit einem intimen Seufzer, er besitze ja kaum etwas von Wert, außer einem Kopf voller unbrauchbarer Phantasien.
Unter einem glühenden Deckenlampion saßen sie in Joachims Küche, tranken Wein und sprachen wieder von Literatur, zuerst von berühmten Vorbildern, dann von Joachims eigenen Schreibversuchen.
— Shakespeare ist ein Dichter, mit dem man quasi immer per Sie bleibt, sagte Joachim. Mit anderen Autoren ist man gleich von Anfang an per Du. Kennst du Dave Eggers?
Walter schüttelte den Kopf und bat ihn, davon zu erzählen. Aber Joachim hatte den Faden verloren und erzählte ihm stattdessen von einem Literaturpreis, den er vor elf Jahren bekommen hatte, für sein erstes Buch, das den sonderbaren Titel Das Tschechow’sche Wandgewehr geht von selbst los trug und inzwischen vergriffen war.
— Weißt du, sagte Joachim, die Sache ist, ich erhole mich gerade von einer sehr, sehr schweren Zeit. Ich habe mich lange wie ein Misanthrop benommen, der heimlich in die ganze Menschheit verliebt ist und alle vor dem Untergang retten will.
Er zog sein Reclam-gelbes Hemd mit einer einzigen Bewegung seines kräftigen, aber auch etwas aufgedunsenen Oberkörpers aus, sodass sich zwei Knöpfe unter dem Druck schnell von selbst öffneten, um nicht geköpft zu werden. Er wischte sich sein verschwitztes Gesicht mit dem Hemd ab, dann sprach er weiter:
— Der Roman, der diese Zeit beschreibt und gewissermaßen eine … eine Aufarbeitung davon ist, ist schon in Planung. Er muss nur noch geschrieben werden, dann dürfte sich alles wieder zum Guten wenden. Einigermaßen.
Der Sessel, auf dem er saß, knarrte zustimmend.
Walter brauchte viel Höflichkeit, um Joachims nervöse Kennenlern-Monologe zu ertragen. Aber er fühlte sich auch hingezogen zu diesem unsicheren, kindlichen Mann, der vor lauter ununterdrückbarem Künstlertum das Wort Misanthrop wie mise-en-scène aussprach und sich am liebsten von aller Welt nur mit seinem Nachnamen anreden ließ, der vielleicht ein Pseudonym war: Hutmek.
Ihre Beziehung war sehr kurz, denn obwohl sie sogar zusammen wohnten, trennte sich Walter bald wieder von Joachim, als dieser immer mehr dem Alkohol und der verbalen Selbstgeißelung verfiel. Als Schriftsteller war er seit langem in jenem gefährlichen Zustand der Arbeitsunfähigkeit angelangt, der von den Worten Ich brauche nur eine gute Idee dann wird sich alles weitere schon ergeben nur eine einzige gute Idee bitte erfüllt ist wie der Kopf eines wahnsinnigen Priesters von immerwährendem Glockengeläut. Er verbrachte seine Tage damit, dass er vor dem Bildschirm saß und das Layout seiner Textverarbeitung veränderte, im Internet spezielle Schriftarten suchte, die seinem Auge am angenehmsten erschienen, und einsame, von keinem gesunden Menschen je einholbare Minesweeper-Rekorde aufstellte. Als Joachim Walter eines Abends eröffnete, dass er gedächte, in ein anderes Land zu ziehen, in eine anregende, literarisch hochwertige Großstadt, natürlich nur für kurze Zeit, nur so lange, bis die ärgsten Hemmschwellen überwunden waren, wartete Walter, bis die unsichtbare Zündschnur in seinem Inneren abgebrannt war, und fragte dann, an welche Stadt er denn dabei gedacht habe, obwohl er die Antwort längst wusste.
Joachims romantisch intonierte Antwort war der Schlusspunkt gewesen. Drei Tage später zog Walter bei ihm aus und sie besprachen die ungewisse Zukunft ihrer Beziehung am Telefon. Walter, der seinen überstürzten Auszug ein wenig zu bereuen begann, erzählte Joachim von seinem Coming-Out. Joachim hörte ihm ganz ruhig zu und sagte dann:
— Weißt du was, ich beneide dich.
Walter fragte ihn, warum er ihn beneide. Joachim habe doch seiner Familie ebenfalls von seiner Homosexualität erzählt.
— Ja, sagte Joachim und schien plötzlich ganz nah am Telefonhörer zu kleben, ja, natürlich, aber die sind doch alle so unheimlich liberal und finden das ganz toll und alles. Ich beneide dich um den Stoff, um die Szene. Könntest du mir das noch einmal erzählen?
Walter versuchte ein letztes Mal, das Thema zu wechseln, sprach Joachim auf seinen Alkoholkonsum an (seinen empfindlichsten Punkt), was Joachim normalerweise ungeduldig oder gar wütend machte, aber jetzt half nicht einmal mehr das.
— Waren alle dabei? fragte Joachim.
Walter nahm das Telefon langsam vom Ohr, die empfindungslose Plastikoberfläche war noch für wenige Sekunden warm, und legte auf. Seine Gefühle für Joachim waren verschwunden, so sagte er sich, und die Bücher von Dennis Cooper wanderten in ein unerreichbar hohes Regal.
Der Riss