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Am innersten Punkt der Hölle stand einst ein mittelgroßer Eichenholzschrank, in dem nichts hing als eine Vielzahl nervös vibrierender Kleiderbügel. Diese Kleiderbügel hielten sich an der Metallstange fest wie die vor dem Abrutschen zu einem verzweifelten Fragezeichen gekrümmten Finger des Schurken in einem James-Bond-Film — und bei der ersten Berührung, manchmal sogar schon beim ersten Blick, fielen alle diese Kleiderbügel — eine Generation missgestalteter, von ihrem Schöpfer verstoßener Triangeln — zu Boden, klirrten in dem hölzernen Resonanzraum des Kastens und läuteten das Jüngste Gericht ein.

Irgendwann im Jahr 1982 holte jemand, vermutlich mein Vater, der neben einem Ausweis für die Stadtbibliothek und einem Doktortitel in Physik auch einen LKW-Führerschein besaß, diesen Schrank von seinem ursprünglichen Bestimmungsort ab und stellte ihn in einen der noch weitgehend leeren Räume des Hauses, das er eben erst mit meiner Mutter bezogen hatte.

Meine ersten Besitztümer waren dieser Kleiderschrank, eine Ausgeburt von Lärm und ständig herunterfallenden Dingen, und die Wiege, in der ich lag. Meine früheste Erinnerung ist das Bild der schwebenden Köpfe meiner Eltern über dieser Wiege: sonderbare, sich gegenseitig abstoßende Planeten, die niemals gemeinsam auftraten.

Ein Gespräch, das plötzlich verstummt, weil ein ungebetener Gast den Raum betreten hat. Alle Gesichter drehen sich nach ihm um, sehen ihn vorwurfsvoll an. Man schämt sich plötzlich, kann nicht mehr weiterreden. Alles ist verändert.

So ungefähr muss man sich meine Geburt vorstellen.

Anfangs war alles noch gut, dann war ich meinen Eltern zunehmend im Weg und wurde auf den Balkon gestellt, wo die Luft so kalt war, dass sie vor meinem Gesicht zu Rauchzeichen gefror. In der Eiseskälte, eingewickelt in mehrere Lagen Decken, die mir das Erfrieren ersparen sollten, fragte ich mich mit der sprachlosen Aufrichtigkeit einer lebenden Tabula rasa, was ungeheuer Wichtiges vorgefallen sein mochte, dass ich hier war und mich bewegen konnte.

So zumindest stelle ich es mir vor.

Mit der Möglichkeit, mich zu bewegen, kam die seltsame Notwendigkeit, hin und wieder völlig still zu liegen, auszuruhen. Das führte automatisch zum dritten meiner frühesten Besitztümer: ein völlig abgewetzter Teddybär, der ungefähr zehnmal so alt war wie ich und schon einige Erfahrung mit Kindern hatte. Sein Spezialgebiet war die Linderung von Einsamkeit und Verlassensängsten. Ich vertraute ihm. Ich brauchte ihn, wenn ich ins Bett ging, denn einzuschlafen war ein fast unüberwindliches Problem. In der Nacht, wenn man schlaflos daliegt und an nichts zu denken versucht, werden die Ohrwürmer, die sich tagsüber angesammelt haben, immer lauter, plärrend und schnarrend, wie fremde Radiomusik von einem Nachbarbalkon im Sommer. Deshalb war das komplizierteste Ritual von allen das Einschlafritual. Meine Mutter musste mir jeden Tag Gute Nacht wünschen, dann noch versprechen, dass sie nicht aus der Wohnung ginge, während ich bewusstlos in der Dunkelheit lag, und musste am Ende auf meine nicht immer, aber immer wieder geäußerte Bitte eingehen, draußen, hinter der geschlossenen Tür, die von glühenden Lichtbalken eingerahmt war (welche mit der Essenz verbotenen nächtlichen Erwachsenen-lebens getränkt waren), unauffällig und stetig Krach zu machen, Geschirr zu ordnen, Bücher im schmalen Regal neben dem Fernseher herauszunehmen und wieder hineinzustellen — obwohl sie es natürlich nie tat. Es ging um ihre Zustimmung, ihr Versprechen.

— Gute Nacht.

— Gute Nacht.

— Schlaf schön.

— Mama?

— Ja?

— Du bist draußen, oder?

— Ja, natürlich, ich bin in der Küche und im Wohnzimmer.

— Warum kann ich nicht auch noch ein bisschen im Wohnzimmer sein?

Ihre Hand legte sich von außen auf die Türklinke; sie sank etwas nach unten.

— Weil du jetzt schlafen musst. Schlaf schön.

— Aber Mama …

— Und schöne Träume.

Der Türspalt, in dem sie als schwarze Silhouette gegen das hereindrängende, unendlich interessante Licht stand, wurde schmaler, er drohte zu verschwinden.

— Mama!

— Was ist denn?

Die Türklinke atmete erleichtert auf.

— Du hast vergessen zu sagen –

— Angenehme Träume, hab ich doch gesagt.

— Nein, du hast gesagt schöne Träume, und vorher hast du Schlaf schön gesagt, also zweimal schön.

— Also gut, angenehme Träume.

— Nein, sag’s zweimal.

— Alexander!

— Mama!

Wenn mein ruheloser, lebenshungriger Geist sich nicht geschlagen geben wollte, brach ich in Tränen aus. Meiner Mutter blieben dann im Prinzip zwei Möglichkeiten: die Tür zu schließen und den Abend in Unfrieden zu beenden, da sie wusste, dass ich zu faul sein würde, um tatsächlich aufzustehen und zu ihr zu gehen; oder das dumme Spiel weiterzuspielen, bis zu dem Punkt, da ich zufrieden war.

Natürlich konnte ich selbst auch nicht anders, als mich jeden Abend mühsam die Geländepunkte des zwanghaften Spiels entlangzuhanteln, bis mein Bewusstsein endlich losließ und in bedeutungsvollen Unsinn versank. Der täglich von mir verlangte Abstieg in die Traumwelt hatte zu dieser Zeit weder etwas Beruhigendes noch etwas Aufregendes für mich. Ich fantasierte sehnsüchtig von einer Welt, in der man niemals schlafen musste. Eine Welt ohne erleuchtete Türspalte, die mit einem Ruck zugeklappt werden konnten.

— Angenehme Träume!

Manchmal trieb ich meine Mutter mit meiner Bettelei, dieses oder jenes Wort der Einschlafliturgie noch einmal zu wiederholen, damit das Protokoll auch wirklich eingehalten wurde, so zur Verzweiflung, dass sie ausfällig wurde und mir drohte, die Tür von außen zu versperren, wenn ich nicht sofort Ruhe gab. Natürlich weinte ich dann, so gerade noch hörbar, wie ich konnte, einige Minuten lang, damit sie merkte, wie sehr sie mich mit ihrer Drohung eingeschüchtert hatte, bis sie zurück kam und eine dem feierlichen Vokabular des Einschlafrituals entsprechende Entschuldigung aufsagte, die ich sie dann, angetrieben von der kraftspendenden Wirkung gestillter Tränen, noch ein paar Mal wiederholen ließ.

Und schließlich Nummer vier. Meinen ersten Regenschirm bekam ich — ich erinnere mich genau — mit fünf Jahren. Als ich ihn sah, nahm ich ihn zuerst gar nicht als Schirm wahr. Für den Bruchteil einer Sekunde, für jene kurze Zeitspanne, die wir den ersten Blick nennen und später gern für die größten Fehlentscheidungen unseres Lebens verantwortlich machen, für diesen flüchtigen Moment war er etwas anderes, beinahe Lebendiges, ein Mysterium an Struktur, das sich in seltsamer Spreizgebärde auf dem Küchenfußboden niedergelassen hatte und mich mit einem einzigen ausgefahrenen Fühler anstarrte, auf dessen Spitze ein blendendes Korn Sonnenlicht balancierte. Wie konnte etwas nur so aussehen? Mit diesem langen, am Ende geringelten Schwanz, mit dieser breiten Hutkrempe aus schwimmhäutig bespanntem Stoff und dem sonderbaren Muster, das ihn bedeckte: eine Wolke von weißen Punkten, von denen manche durch dunkelblaue Linien verbunden waren. Erst ein paar Tage später begriff ich den Sinn dieser Verzierung. Ging man unter dem Schirm durch den Regen, konnte man in eine reizvolle Miniatur des nächtlichen Sternenhimmels blicken. Sein erstes Loch bekam der kleine Kinderregenschirm übrigens in der Umgebung der Plejaden, einem blassen Schönheitsfleck der Milchstraße, der aus ungefähr tausend Sternen besteht und für das ungeschulte Auge leicht mit einer verunreinigten Brille oder einer Glaskörpertrübung zu verwechseln ist.

Der Riss war in meinem sechsten Lebensjahr aufgetaucht, gegen Ende eines ungewöhnlich heißen Sommers. Im Unterschied zu all den anderen Gegenständen meiner Kindheit war er etwas, das man nicht besitzen konnte; der Riss besaß einen, wenn überhaupt. Aber seine eigentliche Natur war die völliger Ungreifbarkeit, jenseits aller Fragen von Besitz.