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Er erschien eines Morgens plötzlich an einer Kellerwand, erstreckte sich bis zum Rand eines alten Regals, in dem längst nicht mehr verwendete Geräte und Werkzeuge lagerten. Und vielleicht hörte er da auch auf.

Er tat es nicht.

Mein Vater, verschwitzt, seine Hände schmutzig und müde vom Verrücken des schweren Eisenregals, betrachtete das Ausmaß des Risses. Die ganze Wand entlang. Meine Mutter und ich standen im Hintergrund, hilflose Statisten, die auf das nächste Stichwort des Regisseurs warteten.

— Dreck, sagte mein Vater. Verdammter Dreck.

— Da hinten hört es vielleicht auf, sagte meine Mutter.

— Unsinn. Der geht immer weiter. Dass da die Wand ist, bedeutet nichts.

— Aber er geht nicht über die zweite Wand.

— Hab ich das behauptet?

— Nein, aber –

Mein Vater drehte sich um.

— Hab ich das etwa behauptet? Bringt uns das irgendwie weiter?

— Nein.

— Ich hab nichts von der verfluchten zweiten Wand gesagt, sagte mein Vater und wandte sich wieder dem Riss zu. Die zweite Wand interessiert mich nicht.

— Okay.

— Der Riss geht weiter, er schert sich nicht um Ecken. Er geht einfach weiter.

— Aber –

— Was aber? Red nicht über Dinge, von denen du nicht die geringste Ahnung hast.

Meine Mutter sagte nichts mehr. Ich war verwirrt. Die Idee eines Risses, der sich weiter erstreckte als alle Wände, war mehr, als ich mir vorstellen konnte. Konnte ein Riss ohne eine Wand überhaupt existieren? Aber es hätte in diesem Augenblick nichts gebracht, meinen Vater irgendetwas zu fragen. Er stand nur da und schaute auf die seltsame Fieberkurve, die die Nordwand unseres Kellers zierte. Sein Gesicht war dabei von einer bedrohlichen Ausdruckslosigkeit. Es zeigte keine Wut, aber irgendetwas bereitete sich darin vor. Die Kiefer mahlten, die Augen blinzelten viel und schnell. Selbst seine Bartstoppel schienen sich zu bewegen, wie die Punkte auf einem rauschenden Fernsehschirm.

Dann riss er sich von dem unangenehmen Anblick los und ging an uns vorbei die Treppe hinauf.

Den ganzen Abend dachte ich über die unbegreiflichen Eigenschaften des Risses nach. Ich sah aus dem Fenster. Ging der Riss da unten einfach weiter, durch die Luft, als unsichtbare Verwerfung? War der Raum an dieser Stelle entzweigebrochen? Und was geschah, wenn man ahnungslos hindurch rannte? Man knickte einfach in der Mitte ein oder platzte an der Seite auf. Wie sah ein Mensch überhaupt aus, innen? Ich brütete über die sonderbaren Einsichten, die meinem Vater den ganzen Tag durch den Kopf gehen mussten. Wie fühlten sich solche Einsichten wohl an? Es war ohne Zweifel unangenehm, sie zu besitzen. Er geht einfach weiter.

In dieser Nacht träumte ich von riesenhaften Regenwäldern, die sich mit langsamen Stiefelschritten über den ganzen Erdball bewegten und ihn langsam verdunkelten. Ich wachte auf und musste so dringend aufs Klo, dass ich es fast nicht mehr rechtzeitig schaffte.

— Ich bin mir sicher, dass das nicht ohne Grund passiert, sagte meine Mutter. Ich weigere mich, das irgendwie als Strafe zu betrachten, weil ich … weil ich glaube, dass uns dieser Riss als Familie noch enger zusammenschweißen wird.

Sie sagte das natürlich nicht so, in einem Satz, nicht einmal in einem einzigen Gespräch. Es brauchte schon mehrere Tage, bis sie diese Essenz aus der verwirrenden neuen Situation herausdestilliert hatte.

Das fertige Konzentrat an Optimismus, das meine Mutter anbot, wurde von meinem Vater mit einigen sachlichen Erläuterungen vom Tisch gefegt. Er führte Zauberworte wie Fundament, Tragfähigkeit und Naivität ein. Die Naivität unseres beschädigten Hauses war dabei das stärkste Argument.

Natürlich verfehlte er, trotz seiner Skepsis, die Wahrheit, die meine Mutter längst erkannt hatte: Einen guten Teil der Tageszeit, die er sonst mit finsteren Vorbereitungen zu Panikattacken und Wutausbrüchen verbracht hatte, widmete mein Vater nun der Erforschung des Risses. Immerhin war es sein Metier, er war gefragt — nicht von meiner Mutter oder seinem Sohn, deren Bitten und Anliegen er zumeist als linguistisches Phänomen abtat, nein, er war gewissermaßen von der Natur selbst gefordert worden, durch das unvorhersehbare Absinken des Hauses, für das er den Kaufvertrag einst eigenhändig unterschrieben und dessen Garten er aus eigener Kraft bepflanzt hatte.

Er war es im Übrigen, der dem Riss seinen Namen gab. Er nannte ihn: Riss. Manchmal auch: Risss.

In seinem Arbeitszimmer stand eine Schiefertafel, die mir, der ich noch keinerlei Gedanken an unverrückbare Tatsachen wie das Erwachsenwerden, den Tod oder das implodierende Universum verschwendete, Schauer über den Rücken jagen konnte, wenn ich mich ihr mit meinem Finger näherte: Lange bevor ich sie berührte, teilte sich ihre Oberflächenbeschaffenheit, jene furchtbare Mischung aus glatt und rau, meiner Haut mit, so ähnlich wie wenn man mit der Hand über einen knisternden Fernsehbildschirm wischt.

Auf der Tafel meines Vaters befand sich seit geraumer Zeit eine ungefähre Kopie des Risses, die Übergänge von Wand zu Wand waren durch ein kleines Symbol gekennzeichnet, das, wie ich später lernte, einen rechten Winkel bezeichnete.

Natürlich war mein Vater unempfindlich gegenüber der Oberfläche der Tafel, er bemerkte nicht einmal das Kreischen der Kreide, das immer dann entstand, wenn er zu schnell auf ihr schrieb. Er tat alles am liebsten sehr schnell, denn je schneller er die Dinge erledigte, desto eher hatte er sie hinter sich, und erst wenn etwas zu Ende war, konnte er darüber reden, was, wie mir früh klar wurde, die einzige Überlebensstrategie war, die es für ihn in der Hölle gab.

Seine Hölle maß in ihrer Gesamtheit ungefähr einhundertzwanzig Quadratmeter, verteilt auf zwei Stockwerke, eine Terrasse mit Garten, einen Balkon und eine finstere Garage.

Die Vorbesitzer des Hauses hatten es sich nicht nehmen lassen, bei ihrem Auszug das Geländer der Innentreppe aus ihrer Verankerung zu reißen und mitzunehmen.

Das Haus war in den sechziger Jahren gebaut worden, es hatte beängstigend wenig Überflüssiges in seiner Bauweise. Wilder Wein, dem man eine Fassade zum Wachsen anbot, bildete nur ein paar traurige Ärmchen, die keinen Halt fanden. Efeu wuchs in leidenschaftslosen Ornamenten an der schmutzigen Garagenwand. Und selbst bunte Girlanden, die irgendwann anlässlich eines längst vergangenen Kindergeburtstags aufgehängt worden waren, blieben nicht hängen und fielen ins Gras. Es gab keine vorstehenden Fensterbretter, auf denen Blumentöpfe Platz gefunden hätten, aber zumindest gab es einen Balkon. Der Balkon lag allerdings auf der Schattseite des Hauses, und im Winter bildeten die Eiszapfen unter der Dachrinne einen dicken, weißlich-transparenten Euter.

Nach dem Auftreten des Risses blieben die morgendlichen Rundgänge meines Vaters manchmal aus. Stattdessen hörte man mysteriöse Geräusche aus dem Keller, bis hinauf in den ersten Stock und in mein Zimmer.

Was tat er die ganze Zeit da unten? Ich traute mich nicht zu fragen. Und ich durfte ihn, soviel war sicher, auch nicht begleiten. Angeblich bestand Einsturzgefahr. Was aber niemand bedacht zu haben schien, war, dass in der Folge ja das ganze Haus betreffen musste, also auch mich, der in vermeintlicher Sicherheit im ersten Stock im Bett lag, während mein Vater unten mit dem Erdreich verhandelte.

Ich versuchte durch unauffällige Bemerkungen meine Mutter dazu zu bringen, mir unabsichtlich auf meine stumme Frage zu antworten. Etwa: Ja, Alexander, da unten ist ein riesiger Tunnel, eine Probebohrung, und da macht der Papa ein neues Stützgerüst für unser Haus. Er kann das. Man darf ihn bloß nicht stören. Diese Erklärung machte meinen Gedanken selbst im Halbschlaf ein jähes Ende. Alles, wobei man meinen Vater nicht stören durfte, gehörte in eine Sphäre von fast religiöser Selbstgenügsamkeit.