Warum durfte man ihn nicht stören? Natürlich weil man ihn nicht stören durfte.
Gott existierte und waltete irgendwo tief in diesen stillen Verlautbarungen, und mein Vater verehrte einen besonders schwierigen, unversöhnlichen Gott, für den er jeden Tag sehr früh aufzustehen pflegte, um vor dem Haus langsam auf und ab zu gehen. Diese Art von Morgenmesse durfte nur er allein besuchen. Wenn man ihn bis an die Türschwelle verfolgte und fragte, was er denn um fünf Uhr morgens auf der Straße machte, wurde er wütend und ging ohne Kommentar ins Haus zurück.
Ließ man ihm aber seine zwei Stunden, die ihn vom Zusammenleben mit seiner Familie trennten (um sieben Uhr stand meine Mutter auf), war er tagsüber einigermaßen ruhig und entspannt. Um fünf Uhr früh ist eine schmale Nebenstraße in einer mittelgroßen Stadt wie Graz etwas sehr Intimes, wie ein windiger, verlassener Parkplatz hinter einem Zirkuszelt oder der geräuschlose Innenhof eines Krankenhauses, in dem gerade ein Nachkomme geboren worden ist.
Am Abend, wenn mein Kopf schon fast eingeschlafen war, bekam ich Antworten auf meine Fragen. Mein Vater zog sich seinen Overall an, wie jeden Tag, und ging dann in den Keller. Man hörte irgendwo weit weg das Knarren von Stühlen, dann fiel eine schwere Tür ins Schloss.
Schnitt. Der Keller. Spinnweben. Mein Vater mit einem Grubenlicht am Helm. Der Lichtkegel streicht über die verwitterte Mauer, an der sich tote oder blindgeborene Weinreben entlangtasten. Plötzlich stehen wir in einer Sackgasse, vor uns eine Wand, auf der nur ein großes Poster klebt. Es ist schwarz-weiß, eigentlich sepiabraunweiß, und zeigt einen Elefanten, der auf einem Fuß balanciert, mit unendlich traurigen Vergangenheitsaugen. Ein winziger Dompteur steht daneben und freut sich, als Mensch auf die Welt gekommen zu sein. Mein Vater reißt das Plakat von der Wand. Kühle Luft und modrige Dunkelheit wehen uns an. Das Grubenlicht meines Vaters erhellt den Tunneleingang. Wir tauchen ein in die dreckige, fette Finsternis. Der Gehörsinn wird augenblicklich sphärisch, Dinge, die hinter uns zu hören sind, ereignen sich vor uns und umgekehrt. Das unheimlich verstärkte Echogeräusch von fallenden Wassertropfen, wie von einem Synthesizer gespielt: Tuipp! Tuipp!
Ein paar Meter durchs Erdreich geht es dahin, ohne dass uns etwas Besonderes auffiele. Es gibt sehr viele Würmer im Erdreich neben und über uns. Die Würmer ringeln sich, vermutlich unter Qualen, da sie so etwas noch nie gesehen haben: elektrisches Licht. Manche von ihnen sind eindeutig nur mehr der Rest ihres alten Ichs, armselige Hälften, die melancholische Fingertänze aufführen. Kopfstücke ohne Rumpf winden sich, versuchen sich zu orientieren. Sie bestehen aus nichts als Phantomschmerzen.
Bewohner der Höllenbecken.
Dann ist der Gang plötzlich zu Ende. Ein Widerstand, ein schweres, graues Bündel Kleider oder etwas Ähnliches. Das Grubenlicht huscht über ein altes, augenloses Gesicht, das die Farbe von frisch gebranntem Ton besitzt.
Jeden Tag geht er hier hinunter, zu seinem Lehm-Mann, der prähistorischen Mumie, die er in der Erde, in welcher unser Haus für alle Zeiten feststeckt, gefunden hat. Deshalb darf ihn niemand stören. Der Körper ist gut erhalten, ihm fehlen nur der linke Arm und die Beine. Die Augenhöhlen sind leer. Der Mund mit zwei dicken, geschwollenen Lippen wirkt sehr ernst. Man kann ihn berühren, aber nicht zu oft, sonst zerfällt er. Ist es überhaupt ein Er? Er, der Körper.
Plötzlich bekam er Augen, die Augen meines Vaters. Er musste sie gestohlen haben, dazu noch das Grubenlicht! Und schon stapfte er die Treppe hoch, zu uns, zu mir, der ich nicht hinuntergehen durfte, und jetzt werden sie sehen, was sie von diesem Verbot haben — gemeinsam hätten wir den Wiedergänger niedergerungen.
Mein Kopf fiel nach hinten und ich wachte auf. Verwirrtes Blinzeln zog über mein Gesicht, wie das Leuchten von Gewittern, die von einer Raumstation aus beobachtet werden. Wirbelstürme so klein wie Muffins. Unten im Erdgeschoss hörte man das allnächtliche Poltern der Möbel. Die Couch ächzte, als sie verschoben wurde. Alles war in Ordnung. Ich war in unserem Haus.
Und das Haus bewohnte kein ehemaliger Bergarbeiter, der dereinst in einem Stollen verschüttet worden und nach einer langen Reise durch verschiedene Gesteinsschichten im Erdreich unseres Vorgartens gelandet war.
Ich schloss die Augen, dachte an etwas Schönes.
Natürlich, jeder Bergarbeiter würde sein Grubenlicht zurückhaben wollen. Er sieht ja sonst nichts in der Dunkelheit, und kann die Gesichter der Menschen in seiner Umgebung nicht erkennen. Wer keine Augen mehr hat, braucht wenigstens eine Lampe auf der Stirn.
Nur ein einziges Mal sah ich ihn am Riss arbeiten. Ich ging mit der Ausrede zu ihm in den Keller, dass oben das Telefon nach ihm schrie. Soweit ich sehen konnte, tat er hier unten gar nichts. Er wischte sich nur alle paar Minuten mit der Hand über die schweißglänzende Stirn.
— Ich hab’s fast gehabt, sagte er.
— Was?
Natürlich ahnte ich, was er meinte.
— Den Verlauf der … ach, egal … das ist einfach unmöglich …
Er wandte sich zu mir und deutete mit dem Schraubenzieher direkt auf meine Nase, während er sprach:
— Merk dir, Alex, das ist einfach unmöglich … unmöglich, merk dir meine Worte … Man glaubt die ganze Zeit, man hat es endlich, und dann kommen einem ständig die eigenen Gedanken in die Quere. Die kann man nie abstellen. Nie, nie. Denn sonst würde man ja … sicher, man würde wahrscheinlich …
Verrückt werden — der Schraubenzieher vollendete den Satz mit einer kleinen irren Drehung. Mein Vater schüttelte den Kopf über diese unverrückbare Einsicht, und der Schraubenzieher wanderte zurück in seine Tasche. Dann ächzte er und hatte große Schwierigkeiten, sich zu bücken.
Das Auftreten des Risses fiel mit einigen anderen unangenehmen Vorfällen zusammen. In der Schule wurde ich von einem Schläger namens Philipp belästigt. Er warf mich auf den Boden, setzte sich auf mich, schlug mich blutig, ließ mich Erde fressen und dabei rezitieren, dass ich gerne Erde fraß. Es gab kein Mittel, ihn zu bremsen. Er hatte sich auf mich eingestellt, hörte meine Stimme unter den Stimmen hunderter anderer Schüler heraus und steuerte zielsicher auf mich zu, nur um dann mit einem auf einschüchternde Weise glänzenden Grinsen vor mir stehen zu bleiben und zu sagen:
— Ja, wen haben wir denn da?
Ich wehrte mich, natürlich, ich versuchte alles. Aber es half nichts. Ich verlor regelmäßig mein Taschengeld an ihn, er sperrte mich im Klo ein oder trat mir von hinten in den Rücken, wenn ich auf der Treppe stand.
Dann kamen die Sommerferien, eine kurze Erholungspause, und als die Schule wieder anfing, blieb sein Platz die ersten paar Wochen leer. Dann kam er für zwei Tage, verschwand aber wieder. Er sah sehr bleich aus.
Mich schien er vergessen zu haben.
Es hieß, er leide an einer schweren und komplizierten Krankheit. Mir erzählte man diese Neuigkeit mit einiger Genugtuung und achtete genau auf meine Reaktion. Vielleicht hätte ich diese Nachricht einfach zur Kenntnis nehmen sollen, anstatt ihn zu besuchen, aber ich wollte sehen, wie er hilflos in einem Bett lag und gefüttert werden musste.
An einem Herbsttag läutete ich am Haus seiner Eltern, wurde von seiner Mutter, einer unwirklich geschminkten Frau mit kurzen Puppenhaaren, begutachtet und schließlich zu dem abgedunkelten Zimmer ihres Sohnes vorgelassen. Er lag im Bett, wie ich erwartet hatte. Ich begrüßte ihn. Er schaute mich lange stumm an. Dann setzte er sich auf.
— Hallo, sagte er.
— Und, wie geht’s? sagte ich und setzte mich neben seine Beine, die aus der Decke hervorschauten. Er trug rote Socken, das weiß ich noch. Dann kommt ein längerer Filmriss. Ich erinnere mich nur noch an die finsteren Vorhänge und den abgestandenen Geruch im Zimmer, aber an kein einziges Wort unserer Unterhaltung.