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Zwei Tage später erhielt meine Mutter einen Anruf.

— Ich wollte Sie bitten, Ihren Sohn nicht mehr zu uns kommen zu lassen.

— Du liebe Zeit, was hat er denn angestellt?

— Unser Sohn ist sehr krank, wie Sie vielleicht schon gehört haben.

— Aber was hat mein Sohn ihm denn getan?

— Das weiß ich nicht, aber Philipp hat sich furchtbar aufgeregt, nachdem Ihr Sohn bei uns war. Ich hab ihm eine Spritze geben müssen. Bitte, sagen Sie Ihrem Sohn, dass er nicht mehr hierher kommen soll.

Aber meine Mutter wäre nicht meine Mutter, wenn sie nicht nachgefragt hätte:

— Eine Spritze? Was denn für eine Spritze? Und was hat mein Sohn damit zu tun?

Eine Zeitlang schwieg die Anruferin, dann knackte es in der Leitung und das Gespräch war beendet.

Ich sah Philipp später wieder. Er hatte seine Krankheit überlebt und saß in einem Rollstuhl. Ich sprach ihn auf der Straße an, und es dauerte eine Weile, bis er sich an mich erinnern konnte. Dann schüttelte er mir die Hand. Aus irgendeinem Grund kam ich mir in diesem Augenblick vor wie sein Retter. Ich lächelte ihn von oben herab an und erbot mich, ihn im Rollstuhl zu schieben, egal wie weit, egal wohin. Vielleicht habe er ja Lust, den Mur-Radweg entlang bis zum Kalvarienberg zu fahren? Er lehnte angewidert ab.

Die anderen Namen

Da Walter alle Fehler gern zwei- oder dreimal machte, war sein nächster Geliebter wieder ein Künstler. Colin. Der Name war das einzige Amerikanische an ihm, seine Eltern und alle anderen Vorfahren stammten aus dem Wiener Raum. Der amerikanische Name des jüngsten Sprösslings, der einmal ein berühmter Jazzmusiker werden sollte, bedeutete für die Familie so etwas wie ein Fenster in die Zukunft. Doch da dieses Fenster sich nie wirklich ganz öffnete und der Junge sich in der Schule eine Menge bösartiger Abwandlungen seines Namens gefallen lassen musste, bereuten seine Eltern ihre Entscheidung, aber natürlich war es da längst zu spät.

Das Hauptproblem in dieser Beziehung war, dass Walter sich Colin mit Art teilen musste. Art war ein Saxophon. Es war eines jener liebevoll abgewetzten Instrumente, an denen Jazzmusiker, diese seltsame Unterwasser-Spezies aus Clubs und Hinterhöfen, wie Walter sie sich gerne vorstellte, stundenlang mit ihren Lippen hängen konnten, um alle Musik bis auf den letzten Tropfen in gierigen Zügen auszutrinken.

Colin war ein schwieriger Mensch.

In besonders festgefahrenen Situationen, wo er an seinem Talent und seiner Zukunft gleichermaßen zweifelte, war Art, das Saxophon, ein überdimensionales Babyfläschchen, das ihn beruhigte. Er umklammerte das Instrument, das wie ein spanisches Fragezeichen vor ihm schwebte, und ging ruhelos durch alle Zimmer. Colin trug Augen im Gesicht, so wie andere Menschen Manschettenknöpfe tragen: nicht, um damit irgendwelche interessanten Dinge zu tun, sondern weil an dieser Stelle nun mal Platz für sie gewesen war. Selbst wenn man ihn fotografierte, bei festlichen Gelegenheiten wie einer Geburtstagsfeier oder nach Aufführungen seiner kurzen Kompositionen, war das so, als zapfte man ihm unerlaubterweise etwas ab, von dem er ohnehin viel zu wenig besaß. Auf allen Bildern sah er dem Betrachter so entgeistert entgegen, als habe er noch nie etwas so Grauenhaftes gesehen wie den auf ihn gerichteten Lauf einer Kamera.

Natürlich hatten auch Colins Eltern gewusst, dass man jemanden heutzutage nicht mehr einfach der Gosse überantworten kann, um aus ihm einen großen Jazzmusiker zu machen, deshalb schickten sie ihn auf die Musikuniversität. Doch da Colin den kleinen Rest an Mitspracherecht, der ihm eingeräumt worden war, voll ausgenutzt hatte, studierte er nun nicht Jazzarrangement oder Saxophon, sondern Komposition. Seine Eltern gaben sich damit zufrieden. Es war nahe genug an dem, was ihnen vorschwebte.

Über Musik zu reden war für Walter bald mit einem eigenartigen Tabu belegt, denn Colin war wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der sich nie für irgendein Musikstück so begeistern konnte, dass er mitgetanzt, — getrommelt oder — gesummt hätte. Für ihn war jedes Stück eine Frage von Gelingen oder Misslingen einer gestellten Aufgabe. Ein Musikstück war eine Reihe von Axiomen und Folgerungen, die sich daraus ableiteten und die man im besten Fall hören konnte (sonst war es, wie Colin meinte, keine Musik im engeren Sinn). Und wenn ihm die Folgerungen einigermaßen sinnvoll erschienen, erklärte er es zu einem guten Stück. Er hörte sich einen zappeligen Popsong, eine leidenschaftliche Jazzballade, ein experimentelles Streichquartett für vier Roboter oder eine Sonate für neunundneunzig Geigerzähler mit dem gleichen Ernst an und gab hinterher seinen Kommentar ab. Wenn er komponierte, studierte er im Vorfeld eine Vielzahl obskurer Quellen, etwa die Mystikerin Juliana von Norwich oder mittelalterliche Chroniken über den Ausbruch der Pest in Europa. Ausgehend von diesen Quellen leitete er verschiedene Zahlenreihen ab, die er anschließend in Tonfolgen übersetzte. Wie er von den Zahlenreihen auf die Töne kam, blieb stets ein Geheimnis. Er hasste es, wenn man ihn darauf ansprach; dieses Recht besaß ausschließlich sein Professor — und der war ein Genie, ein Erleuchteter, der bei Wolfgang Rihm studiert hatte. Manchmal allerdings hatte Walter den Verdacht, Colin improvisiere seine Stücke lediglich und behaupte dann hinterher, sie aus abstrakten Zahlenfolgen destilliert zu haben.

Colin hielt Anton Webern für den größten Komponisten aller Zeiten, ein Bild von dessen ernstem Konterfei, das an einer unheilbaren Brillenkrankheit litt, hing über seinem Schreibtisch. Der andere Heilige war Erik Satie. Von dessen Musik sagte er immer, sie sei so entwaffnend einfach, dass man sie sogar auf dem Rücken liegend mit den großen Zehen dirigieren könnte, und trotzdem bleibe es große Musik. Die Opernliteratur lehnte er zur Gänze ab. In seinen Augen hatte eine Kunstform keinen Sinn, deren einziges Geheimnis darin bestand, dass das Orchester immer schlauer und weitsichtiger war als alle handelnden Figuren.

Walter fragte Colin eines Tages, ob das Saxophon tatsächlich das richtige Instrument für ihn sei. Er meine ja nur, dieser spezielle Klang, diese raunzig-verrauchte, quasi am Boden schleifende Leidenschaft. Colin reagierte auf diese Bemerkung überraschend zornig und nannte Walter einen bigotten Provinzclown. Wenig später begann er mit intensivem Klavierunterricht. Das Instrument sei in seinem Studium ohnehin ein Pflichtgegenstand, erklärte er, also könne er es ebenso gut gleich ordentlich lernen. Außerdem erteilte ihm eine japanische Gaststudentin Nachhilfe in Rhythmik, was Colins größter Schwachpunkt war; sobald irgendetwas synkopiert war, widerstand es ihm sofort. Ein paar eingekiffte Jazzkollegen waren zwar der Meinung, dass gerade das der Punkt sei, Mann … aber Colin bezahlte doch lieber zwanzig Euro pro Stunde, um dieses lästige Defizit auszugleichen. Er verbrachte ganze Nachmittage über den recht anspruchsvollen Trommelund Transkriptionsübungen seiner Lehrerin Mitsuko Wakabayashi.

Walter, der ein Faible für fremde Namen hatte, die niemand aussprechen konnte, fragte ihn im Scherz, ob diese Frau wirklich existierte. Colin zeigte ihm daraufhin ein Notenblatt mit einer Komposition: For Mitsuko, Ballad in (almost) C. Er hatte dieses kleine Stück für sie geschrieben. Natürlich bewies das gar nichts, dachte Walter zerknirscht. Er existierte immerhin auch, und Colin hatte ihm noch nie ein Musikstück gewidmet.

Art, das Saxophon, lehnte während dieser Zeit in einer Ecke und wurde nur mehr in den schon erwähnten festgefahrenen Situationen hervorgeholt. Solche Tage begannen meist damit, dass Colin nicht aufstehen wollte und zu weinen begann, wenn man ihn ansprach oder berührte. Das Weinen verzerrte seine Züge derart, dass man kaum noch ein Gesicht erkennen konnte; wie die farbigen Puzzlespiele, aus denen Neonreklameschilder wurden, wenn man sie durch verregnete Windschutzscheiben betrachtete.