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Leider häuften sich diese Tage, je näher Colin dem Abschluss seines Studiums kam, und ballten sich schließlich zu tragischen Wochen zusammen. Walters Geburtstag fiel mitten in eine solche Woche. Er lud seine Freunde ein und sie bildeten einen heiteren Sitzkreis um den Küchentisch, tranken und rauchten Marihuana. Dann kam Colin zur Tür hereingewackelt, setzte sich benommen auf einen leeren Sessel und sagte kein Wort. Seine Finger, die noch von synkopierten -Takten träumten, trommelten nervös auf der Tischplatte. Man begrüßte ihn. Er nickte schwach.

Walter war froh, dass Colin sich doch noch dazu aufgerafft hatte, an der kleinen Geburtstagsfeier teilzunehmen; auch wenn er nur zwei Zimmer weiter saß, war sich Walter der ungeheuren Entfernung, die die paar Schritte für Colin bedeuten mussten, wohl bewusst.

Die letzten Wochen ihrer Beziehung bestanden ausschließlich aus verwirrenden Szenen, die nichts und niemand aufschlüsseln konnte.

Colin, zitternd im Türrahmen, mit zerschnittenem Oberarm. Walters entsetzte Frage: Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? Colins Antwort: Nicht anfassen, bitte. Walter, der ungläubig auf die größte Wunde starrte, die wie ein blutiger Fingerabdruck aussah, ein herausgeschnittenes Stück Packeis. Mein Gott, er wird sich noch völlig zerstören, dachte Walter. Aber das Blut war bereits geronnen, und die Hautzellen hatten an den Rändern ihre winzigen Baustellen errichtet.

Colin, der in einer Buchhandlung vor Walter davonrannte, weil dieser den Arbeitstitel seines letzten Klavierstücks unnütz im Munde geführt hatte. Walter, der ihm sofort nacheilte und zu seiner großen Beschämung ein paar Leute um die Richtung fragen musste, in die der junge Mann, etwa so groß und hier an den Seiten ausrasierte Haare — Danke! Manche Leute wiesen dem unfreiwilligen Verfolger ohne Aufforderung die Richtung. Sie taten es nicht aus Bösartigkeit oder deshalb, weil sie den Flüchtenden für einen Verbrecher hielten; sie waren Gardinen, die der Windstoß einer interessanten Menschenbewegung mit sich zog.

Und schließlich, ganz zuletzt: Colin, der sich kaum mehr bewegen konnte, weil seine Abschlussprüfung in drei Tagen stattfinden sollte, und er war nichtswürdig und klein und unwissend, im Begriff, vom brutalen Universitätsbetrieb zerrieben zu werden wie ein Käfer. Seine Bewegungen, die ruckartig und ökonomisch geworden waren, und dann und wann froren sie einfach ein, wie eines der Ausdauerhäschen von Duracell am Ende seines langen, langen Lebens. Am Tag der Prüfung chauffierte Walter ihn zur Universität, wo er ihn ohne ein Wort ablud. Dann setzte er sich in ein Café und wartete auf ein Zeichen Gottes. Nach vier Stunden kam eine SMS von Colin, in der er mit vielen Ausrufezeichen erklärte, dass er die Prüfung bestanden habe. Walter nickte dem kleinen Handy zu, das ihm diese Nachricht immer und immer wieder vorlas, während er auf die Straße hinaustrat, die in der Nachmittagssonne ganz still geworden war. Das einzige Geräusch war eine körperlose Stimme, die in einer unverständlichen Sprache aus einer Gegensprechanlage quakte. Es klang fast so, als rezitiere sie irgendeine historische Wahlkampfrede.

Walter ging lange spazieren.

Als sein Handy läutete, ging er nicht ran. Er bog um eine Ecke und tauschte die ruhige, kontemplative Straße gegen eine lautere ein. Mit einer Hand löschte er Colins Namen aus dem Nummernspeicher.

Namen, dachte Walter. All die Namen.

— Eintrag wirklich löschen? OK/NO, fragte das besorgte Telefon, das ahnte, wie groß die bevorstehende Veränderung war.

Walter ließ seinen Finger auf der Taste behutsam schwerer und immer schwerer werden, so lange, bis sie sich wie von selbst drückte und dieses Kapitel beschloss.

Preis der Jury

Dann — ein Wort wie ein Trommelschlag, einer der unendlich vielen Ruhepunkte von Zenons berühmtem Pfeiclass="underline" Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Eine Jury hatte aus vielen hundert Beiträgen für Maturazeitungen ausgerechnet die Einleitungsworte meines Vaters An das Komitee für Zukunft / Geheimabteilung B als beste Abschlussrede des Jahres gekürt — und Professor Kerfuchs, der seit beinahe zehn Jahren Französisch und Physik an einem Gymnasium unterrichtete, war darüber empört, ja sogar zutiefst gekränkt. Niemand konnte sich sein Verhalten erklären. Seit einer Woche war er nun schon im Krankenstand. Seine Vertretung übernahm eine junge Kollegin. Er schloss sich unterdessen in seinem Zimmer ein und ordnete stundenlang irgendwelche Zettel.

Irgendwann kam er heraus, als wäre nichts gewesen, setzte sich zu uns an den Tisch, las uns die holprige, freundliche Preisbegründung vor und verbrannte sie hinterher. Das Papier wurde zuerst an den Rändern braun, faltete sich und fiel zusammen, bildete eine kleine Faust aus Asche.

— Ich werde nicht mehr zurückgehen, sagte er. Ich kann nicht mehr im Klassenzimmer stehen.

— Warum nicht? fragte meine Mutter.

— Es geht einfach nicht, sagte mein Vater und legte sich eine Hand auf den Rücken, als er von seinem Sessel aufstand.

Den Rest des Tages verbrachte er in dem Blättergeraschel, das aus seinem Arbeitszimmer drang.

In den ersten Jahren war er noch so klug gewesen, nur einen halben Lehrauftrag zu übernehmen, aber dann kamen sehr bald die dunklen Jahre der Vollbeschäftigung. Er stellte sein Hobby, das Schreiben und das Konzipieren von Musicals, vollkommen zurück, verkündete, dass er ein, zwei Jahre Pause machen wolle. Schließlich müsse man auch einmal an die Familie denken. Und er hielt dieses Gelübde auch tatsächlich durch — und fand nie wieder richtig zu seinen alten leidenschaftlichen Irrfahrten auf dem Papier zurück.

Dann kam die plötzliche Anerkennung für seine Abschlussrede. Man gratulierte ihm. Und er zog sich zurück und arbeitete mehr an dem Riss als je zuvor.

Früher hatte er in die Gesichter seiner Schüler geblickt, in eine leuchtende Tastatur von Ausdruckslosigkeit, und hatte nur Wissenslücken, Herausforderungen, formbare Geister, junge Menschen auf einer spannenden Reise gesehen, auf einem subtilen Abenteuer von Sinnsuche, Selbstfindung und Identitätsentwicklung. Heute sah er in diesen Gesichtern nur noch den Tod.

Wenn er Hefte korrigiere, erklärte er meiner Mutter, überkomme ihn manchmal die entsetzliche Angst, sein Herz könnte stehen bleiben, mitten im Stapel. Etwa beim Buchstaben L. L wie Linquist, Leitner, Leitgeb, Lachner, LaBionda. Er zählte die Namen seiner Schüler auf, die mit L begannen.

— Ist es nicht entsetzlich, dass ich so etwas auswendig weiß? sagte er.

— Wie kannst du nur so lange ohne Unterbrechung reden? Ohne zu wissen, dass dir überhaupt jemand zuhört?

Lydias besorgtes Gesicht taucht wieder ab, und der Rahmen der Zimmertür ist weiß und leer. Ich höre sie im Nebenzimmer in irgendwelchen Dingen kramen. Wie kannst du nur so lange. Sie weiß nicht, dass der Satz eine Falltür war.

— Weiß nicht, rufe ich. Wahrscheinlich Erbmasse.

Ein glücklicher Abend vor langer Zeit. Mein Vater bringt uns alle zum Lachen, erzählt heitere Geschichten, von seinem ersten Fahrrad-Unfall, während er einen Korb voll Gemüse über eine Landstraße transportiert. Davon rollende Kohlköpfe, ein Eisbergsalat, der im Schnee stecken bleibt.

Er spielte oft ein Spiel mit mir, das hieß Ross-Biss. Damals schrieb man beides noch mit ß und entsprechend gleißender waren die Worte. Das Spiel bestand darin, dass wir uns Auge in Auge gegenübersaßen und seine Hände versuchten, mich in die Knie zu zwicken. Ich war entsetzlich kitzlig und tat alles, um seine blitzschnellen Attacken abzuwehren. Die Regel des Spiels lautete: Ein Angriff und eine Abwehr, dann von vorne. Wenn er mich erwischte, quietschte ich und fiel fast vom Sessel.