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Der Hund ist längst außer Sichtweite.

Es ist jetzt so hell, dass man bis zum Einkaufszentrum sehen kann. Der alte Mann wandert langsam daran vorbei.

Auftritt eines Obdachlosen, man erkennt es von weitem an den vier Lagen Kleidung, die er übereinander trägt. Er kratzt sich am Hals, sieht nach links und rechts, ob ihm jemand zusieht (aber ja), dann zieht er sich die Hose herunter und hockt sich auf das kleine Spielzeug-Raumschiff, in dem man für einen Euro sein Kind durchschaukeln lassen kann.

Seit wenigen Stunden ist es Montag, der letzte Tag der Woche. Meine Woche begann bisher immer mit dem Dienstag. Der Dienstag ist ein alter Mann mit Blumen am Hut, sehr gelb im Gesicht, und seine Augen sind fast nur Zwinkern. Das Gelb erinnert an die Farbe von giftigem Weizen, eine albtraumhafte Schattierung von dunklem Gold. Der Mittwoch hat die seltsamste Farbe, wahrscheinlich, weil er als einziger Tag der Woche nicht auf die helle Silbe — tag endet. Er ist gesprenkelt, ein wenig wie ein Wollknäuel aus verschiedenfarbigen Fäden. Der Donnerstag ist majestätisch und rein, seine Farbe ist ein helles Silber, das irgendwie mit dem Tastgefühl der Fingerspitzen verwandt ist. Der Freitag ist entschieden grün, aber sonst fehlt es ihm an Charakter, er ist das fünfte Rad am Wagen, er übertritt gewissermaßen eine Symmetrie. Der Samstag ist dunkel, fast braun, manchmal auch schwarz, aber es ist ein schönes Schwarz, die Farbe eines Wundschorfs, kurz bevor er sich löst und neu gewachsene rosa Haut freigibt. Der Sonntag schließlich ist dunkelblau, aber trotzdem hat er etwas von einem Stück Schokolade, in das man beißen möchte. Der Montag kommt in meiner Aufzählung deshalb als letzter, weil er der hässlichste Tag der Woche ist und den ersten Platz nicht verdient hat, er ist rot und nackt, wie ein Stück Fleisch.

Das ist die Woche des Synästheten Alexander Kerfuchs.

Die letzten zwei Wochen im Altersheim werden noch so verlaufen, mit den heillosen Überforderungen des Montagmorgens und den verklingenden Stressakkorden des Freitagnachmittags. Der Kaffee ist zu kalt, wollen Sie mich vergiften? Mir ist da ein Malheur passiert, schon wieder. Ich muss einen Brief schreiben, helfen Sie mir. Und die gute alte Zeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Alles geht den Bach runter, allen voran der Bach selbst. Noch zwei Wochen Pflegedienst, aufräumen, putzen, Betten beziehen, Unterhaltungen austeilen, Kaffee servieren, unter den Heizkörper gepurzelte Schachfiguren aufsammeln. In meinem Kalender häufen sich kleine Smileygesichter, die die überstandenen Tage markieren. Für den Samstag am Ende der Zeit habe ich einen glücklichen, breit grinsenden Vogel mit Fliegerhelm gezeichnet.

Ich habe den Heimbewohnern versprechen müssen, ihnen meine Telefonnummer zu hinterlassen. Es ruft sie ja sonst niemand an. Die meisten verstehen überhaupt nicht, was das kleine Ding in ihrer Hand soll, was Ringtones sind und warum es nicht zu klingeln aufhört, wenn man es sich ans Ohr hält.

Also spielen wir ein wenig damit, um es kennen zu lernen.

— Hier ist der Ausschaltknopf.

Frau Gotthard antwortet:

— Ja.

— Und das ist gleichzeitig der Ausschaltknopf, sage ich.

Sie bemerkt es sogar noch vor mir. Sie beginnt zu grinsen.

— Ah, jetzt habe ich Unsinn geredet, haben Sie gehört? Zweimal Ausschalt…

Ihr Kopfzittern nickt.

— Gleichzeitig der Einschaltknopf, wollte ich sagen. Probieren Sie mal.

Sie blickt eine Weile auf das Telefon in ihrer Hand, dann hebt sie den Kopf und stellt eine sehr ernste Frage, auf die es keine Antwort gibt:

— Wohin ist sie gegangen?

— Wer?

— Sie war eben noch hier.

Der Dämmer, in dem sie kurz darauf versinkt, ist so tief, dass es davon im Zimmer kälter wird.

Mit weißem Klebeband habe ich auf meinem Schlafzimmerboden den Umriss einer Tatort-Leiche gebastelt. Als Lydia die Figur zum ersten Mal sah, sagte sie, nun wisse sie endlich, warum sie ausgezogen sei. Und womit ich ihre Abwesenheit ausfülle.

— Du betrügst mich mit einem Beweisstück, sagte sie kichernd, kniete sich hin und zupfte am losen Ende eines Klebestreifens herum.

Mit ihren eckigen Proportionen und der Ökonomie ihrer Bestandteile (siebzehn Streifen) erinnert die Figur ein wenig an ein Ampelmännchen. Da der eine Arm schräg vom Körper absteht, als strecke sie sich nach etwas schwer zu Erhaschendem, schläft meine Hand oft schon nach kurzer Zeit ein, wenn ich mich in den Umriss lege.

Ich liege auf dem Rücken und starre nach oben. Da ich gerade noch in die Sonne geschaut habe, wandern große rote Flecken über die Decke, wie die Wachsklumpen in einer Lavalampe. Es ist so unbequem hier auf dem Schlafzimmerboden, dass ich schon nach ein paar Minuten einschlafe.

Ich begegne sonderbaren Frauen, die ihre kaputten Lampenschirme durch Schneekugeln ersetzen, die sie in einem Steinbruch abbauen. Mit den Schneekugeln statt der Glühbirnen verringert sich die Zimmertemperatur um ganze zehn Grad.

Als ich erwache, stelle ich überrascht einen neuen Rekord fest. Fünf Stunden am Stück. Draußen ist es schon dunkel. Dann höre ich das Geräusch zum ersten Mal. Ein Poltern, als würde irgendwo ein Sack Kartoffeln über einer Treppe ausgeschüttet, dann ein lauter Knall. Wenig später wiederholt sich das Geräusch, dann wieder und wieder.

Ich bleibe liegen. Eine Sirene ertönt — eines jener Signale, die erfunden wurden, damit man nicht vergisst, dass die Welt in der Nacht noch existiert, allen Laterna-Magica-Spielen des eindösenden Gehirns zum Trotz. Das dazugehörende Bild drängt sich sofort auf: ein stillstehender Rettungswagen, grau in der Nacht, wie alle Autos, stößt seinen einsamen Ruf aus. Da er sich nicht von der Stelle rührt, muss es ein Hilferuf sein. Ein Rettungswagen, der selbst um Hilfe ruft. Ein Wagen, der in seinen Ketten singt wie das Meer singt Kettenmeer in my chains like the sea

Das Geräusch weckt mich. Ein bedrohliches leises Poltern, gefolgt von einem lauten Knall. Diesmal ist es lauter. Und näher.

Am nächsten Morgen klopft es an der Tür, und ich erhebe mich aus meinem harten, geometrischen Nest. Mein Nacken schmerzt und der Rücken schwört, er sei soeben neun Stunden auf einer Streckbank gelegen. Schnell ziehe ich etwas an, währenddessen klingelt es. Ich schwanke ins Vorzimmer. Hinter meinem Rücken halte ich, wie eine Waffe, die man zu gegebener Zeit hervorholen und dem Gegner an die Kehle drücken kann, mein Telefon.

Ich öffne die Tür einen Spaltbreit. Das Gesicht von Herrn Steiner, dem Vermieter, schwebt dort draußen, ein lachender Halloween-Kürbis, in ein fantasievolles Kopftuch gewickelt, wie es sonst nur Bäuerinnen tragen. Aus seinem ordentlichen Hemdkragen schaut ein türkises Gewandstück hervor, das unmöglich zu der Garderobe eines Erwachsenen gehören kann. Der Alte verfällt, seit ich hier in seinem Haus wohne, auf immer seltsamere Verhaltensweisen. Einmal im Sommer hat er sogar vergessen, sich eine Hose anzuziehen. Meist geht er mit einem Pyjamaoberteil durch die Gegend.

Ich erweitere den Türspalt, so dass man nun zumindest einen Arm hindurchstrecken könnte. Einen Arm mit einer Handgranate.

— Herr Steiner, guten Morgen.

— Guten Morgen. Ich wollte Ihnen nur … also, damit Sie das jetzt nicht missverstehen …

— Ist etwas passiert?

— Passiert — nein, nichts Schlimmes, ich wollte Sie nur –

— Ich bin gerade etwas in Eile.

— Also, ich will Sie auf keinen Fall aufhalten, aber es hat da nämlich ein paar Beschwerden gegeben –

— Weswegen?