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— Okay.

— Ich sehe schon, was Sie da …

Den Rest verstehe ich nicht mehr, feindseliges Gemurmel. Ich flüchte in den Aufenthaltsraum, wo ein ständig vor und zurück wippender Mann, der eigentlich ins untere Stockwerk gehört, und Herr Sedlatschek vor einem Schachbrett sitzen. Figuren befinden sich nur wenige darauf, nicht einmal die beiden Könige, aber dafür redet Herr Sedlatschek ohne Pause auf seinen Besucher ein, der ihn währenddessen nicht einmal ansieht. Das Licht eines frühen Tages fällt schräg und leicht gekrümmt durch die Fenster. Ein leerer Vogelkäfig lehnt in einer Ecke und wartet darauf, dass ihn endlich jemand repariert, die quietschende Tür, die nicht mehr richtig schließt. Auch Bilder gibt es, echte Gemälde, die an den Wänden hängen als Fenster in eine albtraumhaft erstarrte Welt voller Heuwagen, Sonnenuntergänge und verwitterter Jägerhochsitze. Es gibt jede Menge leerer Sessel und ein ständig zugeklapptes Klavier, es gibt tief fliegende Lampions, die einzigen Lichtquellen bei Nacht, es gibt Blumentöpfe, die große, wirre Gewächse gebären, und an der linken Wand, unter einem Bücherbord, steht ein buntes, breitschultriges Sofa, das in einsamen Stunden manchmal so tut, als wäre es eine riesige Mehlspeise mit Schokoladenglasur.

Ich spähe auf den Gang. Niemand da. Keine Spur von Max.

Nur ein kleines Feuerwerk diesmal, ein wenig Beschäftigung, gerade so viel, dass sie für einen Augenblick aus der Vorhölle herauskommen. Außerdem brauche ich etwas, in das ich die negativen Schwingungen der nervösen Frau Lorca verwandeln kann. Lauthals singen oder fluchen ist ja nicht erlaubt.

Zur Sicherheit nehme ich meine beiden Telefone aus den Taschen und lege sie auf den Schuhschrank vor der Tür zum Aufenthaltsraum. Mit Anlauf? Ich bin kein Stuntman, aber warum eigentlich nicht. Herrn Sedlatscheks quakende Stimme wird ein wenig lauter, vermutlich redet er von steigenden Preisen und Politikern, deren Namen er nicht einmal richtig ausspricht, die er aber trotz allem abgrundtief hasst.

Fertig. Das linke Knie schonen. Aufprall mit dem rechten.

Der leere Vogelkäfig blinkt, das Startsignal.

Fertig. Los.

— … und sag ich natürlich bist du eigentlich noch ein Mensch der sich einfach alles mit einem erlauben darf weil wie Sie ja wissen ist mein Sohn also mein Sohn hat sich vorher überhaupt nie irgendwo schlecht aufgeführt weil er auch nie etwas getrunken hat aber seit seine Frau seine Freundin besser gesagt ihm dieses Kind in die Welt … Ja, was –

Meine Hand rutscht an Herrn Sedlatscheks Schulter ab wie an einem glitschigen Felsvorsprung. Als hätte ich einen Lichtschalter berührt, flackern seine Augen auf, wie ich im Fallen gerade noch sehen kann.

— Aah!

Ich donnere auf zwei leere Stühle, sie kippen um, werden von meinem Gewicht mitgerissen, mein Knie (das linke, das linke!) schlägt brüllend am Boden auf, ich wimmere auf und die Männer hinter mir reden wirr durcheinander.

Ich bleibe regungslos zwischen den Stühlen liegen. Meinem Bein erlaube ich ein, zwei filmreife Zuckungen. In der Peripherie meines Gesichtsfeldes sehe ich die aufgeregten, scheuen Bewegungen der beiden alten Männer. Herr Sedlatschek wiederholt es immer wieder, gefallen, hingefallen, gestürzt, in überraschenden Permutationen. Sein Gesprächspartner, ich hätte es wissen müssen, ist einer der Sprachbehinderten von unten, einer von den Reha-Robotern, nicht ein einziges biegsames Gelenk im Körper.

Es dauert eine Zeit, bis sie sich aus dem Raum bewegt haben. Natürlich gehen sie wie kleine Kinder die Schwester holen. Sehr gut. Keine erste Hilfe. Kein Ansprechen, kein Rütteln, nicht einmal ein heiserer Hilferuf. Ich werde ihnen heute Abend keinen Zucker auf den Brei geben, zumindest nicht so viel Zucker, wie sie sich wünschen. Und ich werde reinspucken. Feiglinge. Nur Glück, dass ich heute Abend gar nicht Dienst habe.

Als Herr Sedlatschek (alleine, die Mumie aus dem zweiten Stock hat sich verkrochen) mit einer Schwester zurückkommt, stehe ich schon wieder aufrecht, lächle über mein kleines Missgeschick, halte mir mein Knie, das bei einer kleinen Bewegung unangenehm knackt, und sage:

— Nichts passiert. Bin nur gestolpert …

— Er war ja bewusstlos! protestiert Herr Sedlatschek plötzlich sehr laut mit scharf betontem S.

Die Schwester beugt sich zu ihm hinunter:

— Scheint ihm aber nichts passiert zu sein, Herr Sedlatschek.

— Total weg …

Herr Sedlatschek sieht zwischen der Schwester und mir hin und her. Sein Blick verfinstert sich.

— Ich bin nur gestolpert und hab mir das Knie gestoßen.

Ich hüpfe ein wenig.

— Ist … ist … einfach liegen geblieben, sagt Herr Sedlatschek etwas leiser und nur zur Schwester, die ihn freundlich annickt.

— Ich versteh schon, Herr Sedlatschek, sagt sie.

— Ich war doch nicht bewusstlos, sage ich, ich bin nur gestolpert.

— Ja, Herr Sedlatschek, sehen Sie, ist gar nichts passiert, sagt die Schwester.

— Aber … er kann sich vielleicht nicht erin-

— Vielleicht war es ja der Stuhl, den Sie gesehen haben, schneidet sie ihm das Wort ab. Die Stühle da hinten sind umgekippt. Schauen Sie.

Herr Sedlatschek schüttelt den Kopf. Dann besinnt er sich und schaut tatsächlich auf die Stühle, die umgekippt auf dem Boden liegen. Vielleicht …? Er hat verloren. Man nimmt ihn nicht ernst. Er kennt das. Alle kennen das. Und wissen, dass man dann nur mehr durch Gesten auf sich aufmerksam machen kann, oder durch völlige Apathie. Es ist wie eine ständig vorweggenommene Maulsperre. Worte sind völlig nutzlos, man kann mit ihnen nichts mehr anstellen, also hält man sie zurück.

Ich lächle die Schwester an. Wie ist sie eigentlich auf den Stuhl gekommen? Für einen Augenblick habe ich den Eindruck, dass sie mein geheimes Spiel vielleicht mitspielt. Dieser Gedanke geistert mir bis Dienstschluss durch den Kopf.

Als ich später am Aufenthaltsraum vorbeikomme, sehe ich dort Herrn Sedlatschek mit zwei anderen Bewohnern stehen, einer halbblinden Frau und einem kahlen Greis, der in Symbiose mit einem sprechenden Rollstuhl lebt. Herr Sedlatschek deutet auf die beiden Stühle und dann auf den Boden. Sein alter Mund bewegt sich und bildet Sätze. Die anderen hören ihm interessiert zu.

Das war gratis, denke ich, wie Jim Carrey in Truman Show, während er mit Seife einen Astronautenhelm um sein Spiegelbild zeichnet. Extra für dich, du alte Jammertante. Davon kannst du die nächsten Monate zehren, wenn ich schon längst in Freiheit bin und dein Gesicht vergessen habe.

Wie habe ich Valerie kennen gelernt?

Es gibt eine Reihe von befreundeten Therapeuten, die außerhalb des Heims praktizieren. Manche kommen zu uns, andere müssen besucht werden. So wie Valerie. Sie leitet ein Institut für Lebensführung. Ihre Spezialgebiete sind Stressbewältigung und Übergewicht. Eine Menge fette, frustrierte alte Frauen gehen zu ihr, und wenn es Klientinnen von uns sind, brauchen sie einen Begleiter. Mich.

Der schönste Gegenstand im Heim ist der kleine Begleiterplan, der auf der fantasielosen Pinnwand neben dem Speisesaal hängt. Ich verbringe viele Stunden davor. Sooft es geht, schreibe ich meinen Namen in die herrlich winzigen Kästchen (zu klein für zwei Namen).

Nur äußerst selten werde ich dabei gestört.

— Ah, Kerfuchs, da versteckst du dich!

— KERfuchs! Man spricht es –

— Ja ja, schon gut. Deinen Namen kann ohnehin niemand richtig aussprechen.

Max hat sich angeschlichen. Er muss beobachtet haben, dass ich mich wieder in den Begleitdienst eingetragen habe. In alle noch freien Kästchen. Valerie, Valerie, Valerie.

Er seufzt, lehnt den langen, schwarzen Metallstab, von dem früher einmal efeugemusterte Vorhänge hingen und der jetzt nur mehr als Werkzeug dient, etwa zum Verschieben der zentnerschweren Blumentöpfe, die in jedem Gang stehen, an die Wand. Der Metallstab fällt sofort um.