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Etwas für Arbeitsame. — Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, eröffnet sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen müssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Völker, grosse und kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre Werthschätzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen an's Licht hinaus! Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollständig. Hat man schon die verschiedene Eintheilung des Tages, die Folgen einer regelmässigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarianismus beweist schon, dass es noch keine solche Philosophie giebt!) Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Handwerker, — haben sie schon ihre Denker gefunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre» Existenz-Bedingungen «betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung, — ist diess schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben könnten, giebt schon zu viel der Arbeit für den Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und planmässig zusammen arbeitender Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspuncte und das Material zu erschöpfen. Das Selbe gilt von der Nachweisung der Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas (»wesshalb leuchtet hier diese Sonne eines moralischen Grundurtheils und Hauptwerthmessers — und dort jene?«). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrthümlichkeit aller dieser Gründe und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urtheils feststellt. Gesetzt, alle diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann — und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen.

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Unbewusste Tugenden. — Alle Eigenschaften eines Menschen, deren er sich bewusst ist — und namentlich, wenn er deren Sichtbarkeit und Evidenz auch für seine Umgebung voraussetzt — stehen unter ganz anderen Gesetzen der Entwickelung, als jene Eigenschaften, welche ihm unbekannt oder schlecht bekannt sind und die sich auch vor dem Auge des feineren Beobachters durch ihre Feinheit verbergen und wie hinter das Nichts zu verstecken wissen. So steht es mit den feinen Sculpturen auf den Schuppen der Reptilien: es würde ein Irrthum sein, in ihnen einen Schmuck oder eine Waffe zu vermuthen — denn man sieht sie erst mit dem Mikroskop, also mit einem so künstlich verschärften Auge, wie es ähnliche Thiere, für welche es etwa Schmuck oder Waffe zu bedeuten hätte, nicht besitzen! Unsere sichtbaren moralischen Qualitäten, und namentlich unsere sichtbar geglaubten gehen ihren Gang, — und die unsichtbaren ganz gleichnamigen, welche uns in Hinsicht auf Andere weder Schmuck noch Waffe sind, gehen auch ihren Gang: einen ganz anderen wahrscheinlich, und mit Linien und Feinheiten und Sculpturen, welche vielleicht einem Gotte mit einem göttlichen Mikroskope Vergnügen machen könnten. Wir haben zum Beispiel unsern Fleiss, unsern Ehrgeiz, unsern Scharfsinn: alle Welt weiss darum —, und ausserdem haben wir wahrscheinlich noch einmal unseren Fleiss, unseren Ehrgeiz, unseren Scharfsinn; aber für diese unsere Reptilien-Schuppen ist das Mikroskop noch nicht erfunden! — Und hier werden die Freunde der instinctiven Moralität sagen:»Bravo! Er hält wenigstens unbewusste Tugenden für möglich, — das genügt uns!«— Oh ihr Genügsamen!

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Unsere Eruptionen. — Unzähliges, was sich die Menschheit auf früheren Stufen aneignete, aber so schwach und embryonisch, dass es Niemand als angeeignet wahrzunehmen wusste, stösst plötzlich, lange darauf, vielleicht nach Jahrhunderten, an's Licht: es ist inzwischen stark und reif geworden. Manchen Zeitaltern scheint diess oder jenes Talent, diese oder jene Tugend ganz zu fehlen, wie manchen Menschen: aber man warte nur bis auf die Enkel und Enkelskinder, wenn man Zeit hat, zu warten, — sie bringen das Innere ihrer Grossväter an die Sonne, jenes Innere, von dem die Grossväter selbst noch Nichts wussten. Oft ist schon der Sohn der Verräther seines Vaters: dieser versteht sich selber besser, seit er seinen Sohn hat. Wir haben Alle verborgene Gärten und Pflanzungen in uns; und, mit einem andern Gleichnisse, wir sind Alle wachsende Vulcane, die ihre Stunde der Eruption haben werden: — wie nahe aber oder wie ferne diese ist, das freilich weiss Niemand, selbst der liebe Gott nicht.

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Eine Art von Atavismus. — Die seltenen Menschen einer Zeit verstehe ich am liebsten als plötzlich auftauchende Nachschösslinge vergangener Culturen und deren Kräften: gleichsam als den Atavismus eines Volkes und seiner Gesittung: — so ist wirklich Etwas noch an ihnen zu verstehen! Jetzt erscheinen sie fremd, selten, ausserordentlich: und wer diese Kräfte in sich fühlt, hat sie gegen eine widerstrebende andere Welt zu pflegen, zu vertheidigen, zu ehren, gross zu ziehen: und so wird er damit entweder ein grosser Mensch oder ein verrückter und absonderlicher, sofern er überhaupt nicht bei Zeiten zu Grunde geht. Ehedem waren diese selben Eigenschaften gewöhnlich und galten folglich als gemein: sie zeichneten nicht aus. Vielleicht wurden sie gefordert, vorausgesetzt; es war unmöglich, mit ihnen gross zu werden, und schon desshalb, weil die Gefahr fehlte, mit ihnen auch toll und einsam zu werden. — Die erhaltenden Geschlechter und Kasten eines Volkes sind es vornehmlich, in denen solche Nachschläge alter Triebe vorkommen, während keine Wahrscheinlichkeit für solchen Atavismus ist, wo Rassen, Gewohnheiten, Werthschätzungen zu rasch wechseln. Das Tempo bedeutet nämlich unter den Kräften der Entwickelung bei Völkern ebensoviel wie bei der Musik; für unseren Fall ist durchaus ein Andante der Entwickelung nothwendig, als das Tempo eines leidenschaftlichen und langsamen Geistes: — und der Art ist ja der Geist conservativer Geschlechter.

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Das Bewusstsein. — Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein Thier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nöthig wäre,»über das Geschick«, wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instincte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zu Grunde gehen: oder vielmehr, ohne jenes gäbe es diese längst nicht mehr! Bevor eine Function ausgebildet und reif ist, ist sie eine Gefahr des Organismus: gut, wenn sie so lange tüchtig tyrannisirt wird! So wird die Bewusstheit tüchtig tyrannisirt — und nicht am wenigsten von dem Stolze darauf! Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! Man hält die Bewusstheit für eine feste gegebene Grösse! Leugnet ihr Wachsthum, ihre Intermittenzen! Nimmt sie als Einheit des Organismus! — Diese lächerliche Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins hat die grosse Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine allzuschnelle Ausbildung desselben verhindert worden ist. Weil die Menschen die Bewusstheit schon zu haben glaubten, haben sie sich wenig Mühe darum gegeben, sie zu erwerben — und auch jetzt noch steht es nicht anders! Es ist immer noch eine ganz neue und eben erst dem menschlichen Auge aufdämmernde, kaum noch deutlich erkennbare Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen, — eine Aufgabe, welche nur von Denen gesehen wird, die begriffen haben, dass bisher nur unsere Irrthümer uns einverleibt waren und dass alle unsere Bewusstheit sich auf Irrthümer bezieht!

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Vom Ziele der Wissenschaft. — Wie? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass, wer möglichst viel von der einen haben will, auch möglichst viel von der andern haben muss, — dass, wer das» Himmelhoch-Jauchzen «lernen will, sich auch für das» zum-Todebetrübt «bereit halten muss? Und so steht es vielleicht! Die Stoiker glaubten wenigstens, dass es so stehe, und waren consequent, als sie nach möglichst wenig Lust begehrten, um möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben (wenn man den Spruch im Munde führte» Der Tugendhafte ist der Glücklichste«, so hatte man in ihm sowohl ein Aushängeschild der Schule für die grosse Masse, als auch eine casuistische Feinheit für die Feinen). Auch heute noch habt ihr die Wahclass="underline" entweder möglichst wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit — und im Grunde dürften Socialisten und Politiker aller Parteien ihren Leuten ehrlicher Weise nicht mehr verheissen — oder möglichst viel Unlust als Preis für das Wachsthum einer Fülle von feinen und bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden! Entschliesst ihr euch für das Erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken und vermindern, nun, so müsst ihr auch ihre Fähigkeit zur Freude herabdrücken und vermindern. In der That kann man mit der Wissenschaft das eine wie das andere Ziel fördern! Vielleicht ist sie jetzt noch bekannter wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen, und ihn kälter, statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie könnte auch noch als die grosse Schmerzbringerin entdeckt werden! — Und dann würde vielleicht zugleich ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Vermögen, neue Sternenwelten der Freude aufleuchten zu lassen!