Wenn es sein mußte, gab es noch andere — im Palast der Propheten in der Alten Welt —, die vielleicht bereit und in der Lage waren zu helfen. Warren war sein Freund, und obwohl seine Ausbildung noch nicht abgeschlossen war, war er ein Zauberer und kannte sich mit Magie aus. Jedenfalls besser als Richard.
Auch Schwester Verna würde ihm helfen. Die Schwestern waren ebenfalls Magierinnen und besaßen die Gabe, auch wenn sie nicht so mächtig waren wie ein Zauberer. Allerdings traute er außer Schwester Verna keiner von ihnen. Nun, vielleicht auch Prälatin Annalina. Es gefiel ihm nicht, daß sie ihm Informationen vorenthielt und die Wahrheit nach Bedarf zurechtbog, doch das machte sie nicht aus Böswilligkeit — was sie getan hatte, war allein aus Sorge um die Lebenden geschehen. Ja, Ann würde ihm vielleicht helfen.
Und dann war da noch Nathan, der Prophet. Nathan, der den größten Teil seines Lebens unter dem Bann des Palastes gelebt hatte, war an die tausend Jahre alt. Was dieser Mann wußte, überstieg Richards Fassungsvermögen. Er hatte gewußt, daß Richard ein Kriegszauberer war, der erste, der seit Tausenden von Jahren geboren worden war, und er hatte ihm geholfen, die Bedeutung dessen zu verstehen und zu akzeptieren. Nathan hatte ihm schon einmal geholfen, und Richard war ziemlich sicher, er würde ihm noch einmal helfen. Nathan war ein Rahl, Richards Vorfahr.
Verzweifelte Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. »Der Aggressor stellt die Regeln auf. Ich muß sie irgendwie verändern.«
»Was werdet Ihr tun?«
Richard blickte voller Zorn zur Stadt hinüber. »Ich muß etwas tun, was sie nicht erwarten.« Er fuhr mit seinen Fingern über den erhabenen Golddraht, der das Wort WAHRHEIT auf dem Heft seines Schwertes bildete, und zur selben Zeit spürte er dessen wutschäumende Magie. »Ich trage das Schwert der Wahrheit, das mir von einem echten Zauberer verliehen wurde. Ich habe eine Pflicht. Ich bin der Sucher.« Im Taumel des gärenden Zornes, der hochkam, sobald er an die von den Mriswiths ermordeten Menschen dachte, sagte er leise zu sich selbst: »Ich schwöre, ich werde diesem Traumwandler Alpträume bereiten.«
4
»Meine Arme kribbeln wie Ameisen«, beklagte sich Lunetta. »Hier ist sie mächtig.«
Tobias Brogan warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Fetzen und Flicken zerrissenen, ausgebleichten Stoffes flatterten im schwachen Licht, als Lunetta sich kratzte. Inmitten der Reihen schmucker Soldaten in ihren blinkenden Rüstungen und den mit karminroten Capes drapierten Kettenhemden wirkte sie, wie sie gedrungen und gebeugt auf dem Pferd saß, als schaute sie unter einem Haufen Lumpen hervor. Ihre feisten Wangen bekamen Grübchen, während sie zahnlos feixend in sich hineinkicherte.
Brogan verzog angewidert den Mund, wandte sich ab und bändigte seinen drahtigen Schnäuzer, derweil sein Blick noch einmal über die Burg der Zauberer an der Bergflanke wanderte. Die dunkelgrauen Steinmauern fingen die ersten schwachen Strahlen der Wintersonne ein, die den Schnee auf den höhergelegenen Hängen rötlich färbte. Sein Mund zog sich noch fester zusammen.
»Magie, ich sag’ es Euch, mein Lord General«, beharrte Lunetta. »Hier gibt es Magie. Mächtige Magie.« Sie plapperte weiter, beschwerte sich murrend darüber. Wie kalt es sie deswegen überlief.
»Sei still, alte Hexe. Nicht einmal ein Narr wäre auf dein unheimliches Talent angewiesen, um zu bemerken, daß Aydindril über und über mit dem Makel der Magie behaftet ist.«
Ihre wilden Augen funkelten gefährlich unter den fleischigen Brauen hervor. »Dies ist anders als alles, was Ihr bisher gesehen habt«, sagte sie mit einer Stimme, die zu dünn war für ihre übrige Gestalt. »Anders als alles, was ich je zuvor gespürt habe. Und im Südwesten ist sie auch nicht, bloß hier.« Sie kratzte den Unterarm heftiger und lachte erneut schnatternd.
Brogan betrachtete finsteren Blicks die Menschenmassen, die die Straße hinuntereilten, dann musterte er kritisch die exquisiten Paläste, die die breite Durchgangsstraße säumten, die, wie man ihn unterrichtet hatte, Königsstraße hieß. Die Paläste sollten den Betrachter mit dem Reichtum, der Macht und dem Charakter der Menschen beeindrucken, die sie repräsentierten. Sämtliche Gebäude warben mit hoch aufragenden Säulen, reichen Verzierungen, weiten Fensterflächen, weit geschwungenen Dächern und verziertem Gebälk um Aufmerksamkeit. Für Tobias Brogan waren sie nicht mehr als steinerne Pfaue: protzig zur Schau gestellte Verschwendung, wie er sie noch nie gesehen hatte.
Auf einer fernen Anhöhe lag der weitläufige Palast der Konfessoren, dessen steinerne Säulen und Türme auf der eleganten Königsstraße ihresgleichen suchten, und der irgendwie noch weißer war als der Schnee, der ihn umgab — so, als wollte er die Ruchlosigkeit seiner Existenz hinter einer Illusion der Reinheit verbergen. Starren Blicks erkundete Brogan die geheimen Winkel dieser Heimstatt der Gottlosigkeit, dieses Heiligtums der Macht der Magie über die Frommen, während seine knochigen Finger zärtlich über den ledernen Trophäenbeutel an seinem Gürtel strichen.
»Mein Lord General«, bedrängte ihn Lunetta und beugte sich vor, »habt Ihr gehört, was ich gesagt habe?«
Brogan drehte sich um, seine gewichsten Stiefel rieben in der Kälte knarzend am Gurt des Steigbügels. »Galtero!«
Augen wie schwarzes Eis leuchteten hervor unter dem Rand eines polierten Helms mit einem Helmbusch, den man karminrot gefärbt hatte, passend zu den Capes der Soldaten. Die Zügel locker in einer behandschuhten Hand haltend, bewegte er sich im Sattel mit der fließenden Eleganz eines Berglöwen. »Lord General?«
»Sollte meine Schwester nicht den Mund halten können, wenn man es ihr befiehlt« — er warf ihr einen wütenden Blick zu —, »dann knebelt sie.«
Lunetta blickte kurz nervös zu dem breitschultrigen Mann hinüber, der neben ihr ritt, sah die polierte Rüstung mitsamt Kettenhemd, seine scharfgeschliffenen Waffen. Sie öffnete den Mund und wollte protestieren, doch als ihr Blick auf diese eiskalten Augen fiel, schloß sie ihn wieder und kratzte sich statt dessen an den Armen. »Vergebt mir, Lord General Brogan«, murmelte sie und verneigte den Kopf ehrerbietig vor ihrem Bruder.
Galtero trieb sein Pferd mit einem aggressiven Ausfallschritt näher an Lunetta heran, so daß sein kraftvoller grauer Wallach ihre braune Mähre rempelte. »Sei still, streganicha.«
Ihre Wangen erröteten ob der Beleidigung, und einen Augenblick lang blitzten ihre Augen bedrohlich auf, doch ebenso schnell war es wieder vorbei, und sie schien unter ihren abgerissenen Lumpen zu erschlaffen, während sie unterwürfig den Blick senkte.
»Ich bin keine Hexe«, sagte sie leise bei sich.
Eine hochgezogene Braue über einem kalten Auge bewirkte, daß sie noch weiter in sich zusammensank und endgültig verstummte.
Galtero war ein guter Soldat. Der Umstand, daß Lunetta Lord General Brogans Schwester war, hätte keinerlei Bedeutung, wenn der Befehl erteilt würde. Sie war eine streganicha, eine mit dem Makel des Bösen Behaftete. Auf ein Wort hin würde Galtero oder irgendein anderer der Männer ihr Lebensblut vergießen, ohne einen Augenblick zu zögern oder Mitleid zu empfinden.
Daß sie Brogans Verwandte war, nahm ihn nur noch härter in die Pflicht. Sie war eine ständige Mahnung daran, daß der Hüter jederzeit zum Schlag gegen die Gerechten ausholen und selbst die edelsten Familien verderben konnte.
Sieben Jahre nach Lunettas Geburt hatte der Schöpfer diese Ungerechtigkeit des Hüters ausgeglichen, und Tobias war geboren worden. Doch ihrer Mutter, die längst dem Wahn verfallen war, hatte dies nicht mehr geholfen. Seit seinem achten Lebensjahr, nachdem der schlechte Ruf seinen Vater vorzeitig ins Grab getrieben und seine Mutter es sich endgültig und vollkommen am Busen des Wahns behaglich gemacht hatte, lastete auf Tobias die Pflicht, die Gabe zu kontrollieren, die von seiner Schwester Besitz ergriffen hatte, damit diese sie nicht ganz beherrschte. In diesem Alter hatte Lunetta ihn abgöttisch geliebt, und er hatte diese Liebe dazu benutzt, sie davon zu überzeugen, nur auf die Wünsche des Schöpfers zu hören. Er hatte sie zu anständiger Lebensführung angeleitet, so wie es die Männer aus dem Kreis des Königs ihm beigebracht hatten. Lunetta hatte immer Führung gebraucht, sie sogar bereitwillig angenommen. Sie war eine hilflose Seele, gefangen in einem Fluch, der ihre Fähigkeit und ihre Kraft überstieg, ihn abzulegen und ihm zu entfliehen.