Schwester Verna schmerzte der Rücken, denn sie hatte die ganze Nacht über Totenwache gehalten. Sie alle hatten die Stunden der Dunkelheit hindurch dort gestanden und gebetet, hatten den gemeinsamen Schild über den Toten als symbolischen Schutz für die Verehrten aufrechterhalten. Wenigstens waren sie für eine Zeit von dem unaufhörlichen Getrommel unten in der Stadt fortgekommen.
Beim ersten Licht hatte man den Schild fallen lassen, und jede Schwester hatte einen Strom ihres Han in den Scheiterhaufen geschickt und ihn damit entzündet. Feuer, gespeist von Magie, war durch die aufgeschichteten Scheite emporgeschossen und durch die beiden fest umhüllten Körper — der eine klein und gedrungen, der andere hochgewachsen und kräftig gebaut — und hatte ein Inferno göttlicher Macht entfaltet.
Sie hatten in den Gewölben nach Unterweisung suchen müssen, denn kein Lebender hatte je an dieser Zeremonie teilgenommen. Seit fast achthundert Jahren war sie nicht mehr durchgeführt worden — seit siebenhunderteinundneunzig, um genau zu sein — als zum letzten Mal eine Prälatin gestorben war.
Wie sie aus den alten Büchern erfahren hatten, stand es allein der Prälatin zu, daß man ihre Seele in einem geheiligten Begräbnisritual der Obhut des Schöpfers übergab. In diesem Fall jedoch hatten die Schwestern abgestimmt, um dem Einen, der so tapfer um ihre Errettung gekämpft hatte, dasselbe Privileg zu gewähren. In den Büchern hatte es geheißen, eine Ausnahme könne nur einstimmig bewilligt werden. Erhitzte Debatten waren nötig gewesen, um dies durchzusetzen.
Dem Brauch entsprechend wurde der Strom des Han zurückgenommen, als die Sonne sich schließlich in ihrer vollen Größe über dem Horizont entfaltet hatte und das Feuer mit dem Licht des Schöpfers überflutete. Nachdem sie ihre Kraft zurückgerufen hatten, fiel der Scheiterhaufen in sich zusammen, und zurück blieb nur ein Haufen Asche und einige verkohlte Scheite, die den Ort der Zeremonie auf der Kuppe des grünen Hügels markierten. Rauch stieg kräuselnd in die Höhe und löste sich in der Stille des beginnenden Tages auf.
Gräulich-weiße Asche — das war alles, was in der Welt der Lebenden von Prälatin Annalina und dem Propheten Nathan geblieben war. Es war vollbracht.
Wortlos entfernten sich die Schwestern, manche allein, andere legten tröstend einen Arm um die Schulter eines Jungen oder einer Novizin. Verlorenen Seelen gleich wanderten sie auf gewundenem Weg den Hügel hinab Richtung Stadt, zum Palast der Propheten, kehrten zurück in ein Zuhause ohne Mutter. Schwester Verna küßte ihren Ringfinger und überlegte, daß sie jetzt, da auch der Prophet tot war, wohl auch keinen Vater mehr hatten.
Sie faltete die Hände vor dem Bauch und sah gedankenverloren zu, wie die anderen in der Ferne verschwanden. Sie hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, sich mit der Prälatin zu versöhnen, bevor diese starb. Die Frau hatte sie benutzt, hatte sie gedemütigt und zugelassen, daß man sie für die Erfüllung ihrer Pflicht und das Befolgen von Befehlen zurückgestuft hatte. Obwohl alle Schwestern dem Schöpfer ergeben waren und das Verhalten der Prälatin einem größeren Wohl gedient haben mußte, schmerzte es, daß die Prälatin diese Treue ausgenutzt hatte. Sie war sich wie eine Närrin vorgekommen.
Prälatin Annalina war bei dem Angriff durch Schwester Ulicia, einer Schwester der Finsternis, verletzt worden und von da an nahezu drei Wochen bis zu ihrem Tod nicht mehr aus der Bewußtlosigkeit erwacht. Daher hatte Schwester Verna keine Gelegenheit mehr gehabt, mit ihr zu sprechen. Nathan allein hatte sich um die Prälatin gekümmert, hatte unermüdlich versucht, sie zu heilen, war schließlich aber gescheitert. Ein grausamer Schicksalsschlag, der auch ihn das Leben gekostet hatte. Ihr war Nathan immer sehr vital vorgekommen, doch offenbar war die Belastung wohl zu groß gewesen, schließlich war er an die tausend Jahre alt. Vermutlich war er in den gut zwanzig Jahren gealtert, in denen sie fortgewesen war, nach Richard gesucht und ihn schließlich zum Palast gebracht hatte.
Schwester Verna mußte lächeln, als sie an Richard dachte. Ihn vermißte sie ebenfalls. Er hatte sie bis an die Grenzen ihrer Geduld gereizt, doch auch er war ein Opfer der Pläne der Prälatin geworden, selbst wenn er das, was sie getan hatte, offenbar verstanden und akzeptiert und so keinen Groll gegen sie gehegt hatte.
Es versetzte ihr einen Stich ins Herz, wenn sie daran dachte, daß Richards Geliebte, Kahlan, dieser entsetzlichen Prophezeiung zufolge vermutlich umgekommen war. Sie hoffte, es sei nicht der Fall. Die Prälatin war eine resolute Frau gewesen und hatte die Ereignisse im Leben einer großen Zahl von Menschen aufeinander abgestimmt. Schwester Verna hoffte, daß dies wahrhaftig zum Wohl der Kinder des Schöpfers geschehen war und nicht einfach nur den persönlichen Zielen der Prälatin gedient hatte.
»Ihr seht verärgert aus, Schwester Verna.«
Sie drehte sich um und erblickte den jungen Warren, der seine Hände in dem jeweils anderen Silberbrokatärmel seines tief violetten Gewandes gesteckt hatte. Sie sah sich um und merkte, daß sie beide allein auf der Hügelkuppe geblieben waren. Die anderen waren längst gegangen.
»Vielleicht bin ich das auch, Warren.«
»Und worüber, Schwester?«
Sie strich sich den dunklen Rock mit den Händen an den Hüften glatt. »Vielleicht bin ich nur über mich selbst verärgert.« Sie zog ihr hellblaues Tuch zurecht und versuchte das Thema zu wechseln. »Du bist so jung, was deine Studien anbetrifft, meine ich, daß ich noch immer Schwierigkeiten habe, mich daran zu gewöhnen, dich ohne deinen Rada’Han zu sehen.«
Als hätte sie ihn an etwas erinnert, fuhr er sich mit den Fingern über den Hals, über die Stelle, wo den größten Teil seines bisherigen Lebens der Halsring gesessen hatte. »Jung für die, die unter dem Bann des Palastes leben, vielleicht, aber wohl kaum für die Menschen in der Welt draußen — ich bin einhundertundsiebenundfünfzig, Schwester. Aber ich weiß es zu schätzen, daß Ihr mir den Halsring abgenommen habt.« Er löste seine Finger vom Hals und strich eine Strähne blondgelockten Haars zurück. »Es scheint, als sei die ganze Welt in den letzten paar Monaten auf den Kopf gestellt worden.«
Sie lachte stillvergnügt in sich hinein. »Ich vermisse Richard auch.«
Ein unbeschwertes Lächeln hellte seine Miene auf. »Wirklich? Es gibt nicht viele wie ihn, oder? Ich kann kaum glauben, daß es ihm gelungen ist, den Hüter daran zu hindern, aus der Unterwelt zu entkommen. Aber ganz sicher hat er den Geist seines Vaters aufgehalten und den Stein der Tränen an seinen rechtmäßigen Ort zurückgebracht, denn sonst wären wir alle von den Toten verschlungen worden. Um die Wahrheit zu sagen, ich war die ganze Wintersonnenwende über in kalten Schweiß gebadet.«
Schwester Verna nickte, so als wollte sie ihre Lauterkeit damit noch unterstreichen. »Offenbar sind die Dinge, die du geholfen hast ihm beizubringen, von Nutzen gewesen. Du hast deine Sache gut gemacht, Warren.« Sie betrachtete einen Augenblick lang prüfend sein sanftes Lächeln, dabei fiel ihr auf, wie wenig es sich über die Jahre verändert hatte. »Ich bin froh, daß du dich entschieden hast, noch eine Weile im Palast zu bleiben, obwohl man dir den Halsring abgenommen hat. So wie es aussieht, haben wir keinen Propheten.«
Er sah zu den Überresten des Feuers hinüber. »Den größten Teil meines Lebens habe ich in den Gewölben die Prophezeiungen studiert, und die ganze Zeit über wußte ich nicht, daß einige von einem lebenden Propheten oder gar von einem aus dem Palast selbst stammten. Ich wünschte, man hätte es mir gesagt. Ich wünschte, sie hätten mich mit ihm sprechen, mich etwas von ihm lernen lassen. Jetzt ist die Gelegenheit vertan.«