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»Nathan war ein gefährlicher Mann, ein rätselhafter Mann, den keine von uns je voll verstehen, dem keine trauen konnte. Aber vielleicht war es falsch, dich daran zu hindern, ihn aufzusuchen. Du solltest wissen, daß die Schwestern es dir mit der Zeit, sobald du mehr Erfahrung gehabt hättest, erlaubt, wenn nicht sogar von dir verlangt hätten.«

Er sah zur Seite. »Aber jetzt ist die Gelegenheit vertan.«

»Warren, ich weiß, jetzt, da man dir den Halsring abgenommen hat, kannst du es kaum erwarten, hinaus in die Welt zu ziehen. Aber du hast gesagt, du hättest die Absicht, im Palast zu bleiben, wenigstens für eine Weile, um zu studieren. Im Augenblick ist der Palast ohne Propheten. Ich glaube, du solltest der Tatsache Rechnung tragen, daß deine Gabe sich auf diesem Gebiet sehr deutlich offenbart. Du könntest eines Tages ein Prophet werden.«

Ein sanfter Wind fuhr in seine Kleider, als er über die grünen Hügel hinüber zum Palast blickte. »Nicht nur meine Gabe, auch meine Interessen, meine Hoffnungen, hatten immer mit den Prophezeiungen zu tun. Erst in letzter Zeit habe ich angefangen, sie auf eine Weise zu verstehen wie niemand sonst, doch Prophezeiungen zu verstehen ist etwas anderes, als sie selbst zu machen.«

»Das braucht Zeit, Warren. Nun gut, als Nathan in deinem Alter war, war er bestimmt, was Prophezeiungen betrifft, nicht weiter fortgeschritten als du. Würdest du im Palast bleiben und deine Studien fortsetzen, ich bin sicher, in vier- oder fünfhundert Jahren könntest du ein ebenso großer Prophet sein wie Nathan.«

Eine ganze Weile erwiderte er nichts. »Aber dort draußen wartet eine ganze Welt. Ich habe gehört, in der Burg der Zauberer in Aydindril gibt es wichtige Bücher, und an anderen Orten auch. Richard meinte, im Palast des Volkes in D’Hara gebe es bestimmt jede Menge. Ich möchte lernen, und es gibt vieles zu lernen, was man hier jedoch nicht finden kann.«

Schwester Verna bewegte die Schultern hin und her, um die Schmerzen etwas zu lindern. »Der Palast der Propheten steht unter einem Bann, Warren. Wenn du ihn verläßt, wirst du genauso altern wie die Menschen draußen. Sieh doch, was aus mir in den kaum zwanzig Jahren geworden ist, in denen ich fort war. Obwohl wir nur ein Jahr auseinander geboren wurden, siehst du noch immer so aus, als solltest du an Heirat denken, und ich sehe so aus, als müßte ich bald ein Enkelkind auf meinen Knien wiegen. Jetzt, da ich zurück bin, werde ich wieder nach der Zeit des Palastes altern, was aber einmal verloren ist, kann ich nicht zurückgewinnen.«

Warren wendete den Blick ab. »Ich glaube, Ihr seht mehr Fältchen, als dort tatsächlich sind, Schwester Verna.«

Sie mußte gegen ihren Willen lächeln. »Wußtest du, Warren, daß ich einmal verliebt in dich war?«

Diese Mitteilung erstaunte ihn so, daß er einen Schritt zurücktaumelte. »In mich? Das könnt Ihr unmöglich ernst meinen. Wann?«

»Ach, das ist lange her. Gut über hundert Jahre, denke ich. Du warst so gelehrig und intelligent, und dazu all die blonden Locken. Und diese blauen Augen haben mein Herz höher schlagen lassen.«

»Schwester Verna!«

Als sie sah, wie sein Gesicht errötete, konnte sie ein vergnügtes Schmunzeln nicht unterdrücken. »Es ist lange her, Warren, und ich war jung, genau wie du. Es war eine vorübergehende Vernarrtheit.« Ihr Lächeln verflog. »Jetzt kommst du mir vor wie ein Kind, und ich sehe alt genug aus, um deine Mutter zu sein. Die lange Abwesenheit vom Palast hat mich nicht nur äußerlich altern lassen.

Dort draußen hast du ein paar kurze Jahrzehnte Zeit, soviel zu lernen, wie du kannst, dann wirst du alt und stirbst. Hier hättest du Zeit zu lernen und vielleicht ein Prophet zu werden. Man kann die Bücher von diesen Orten ausleihen und zum Studieren hierherschaffen.

Du bist das, was für uns einem Propheten am nächsten kommt. Nachdem die Prälatin und Nathan tot sind, weißt du möglicherweise mehr über die Prophezeiungen als jeder andere lebende Mensch. Wir brauchen dich, Warren.«

Er drehte sich ins Sonnenlicht, das von den Türmen und Dächern des Palastes schimmernd zurückgeworfen wurde. »Ich werde darüber nachdenken, Schwester.«

»Mehr verlange ich nicht, Warren.«

Mit einem Seufzer wandte er sich wieder um. »Und nun? Wer, glaubt Ihr, wird zur neuen Prälatin erkoren werden?«

Durch ihre Nachforschungen auf dem Gebiet des Begräbnisrituals hatten sie erfahren, wie kompliziert das Verfahren für die Auswahl einer neuen Prälatin war. Warren wußte das bestimmt, denn nur wenige kannten die Bücher in den Gewölbekellern so gut wie er.

Sie zuckte die Achseln. »Für diese Stellung braucht man ein ungeheures Wissen und äußerst viel Erfahrung. Das bedeutet, es wird wohl eine der älteren Schwestern sein müssen. Leoma Marsick wäre eine mögliche Kandidatin, oder Philippa, oder Dulcinia. Schwester Maren wäre natürlich eine Spitzenkandidatin. Es gibt jede Menge geeigneter Schwestern. Ich könnte wenigstens dreißig nennen, ich bezweifele allerdings, daß mehr als ein Dutzend eine ernsthafte Chance haben, Prälatin zu werden.«

Gedankenverloren rieb er sich mit dem Finger an der Nase. »Wahrscheinlich habt Ihr recht.«

Schwester Verna hegte keinen Zweifel daran, daß die Schwestern bereits um die Plätze im Wettbewerb, wenn nicht gar um den Platz ganz oben auf der Liste wetteiferten. Die weniger ehrwürdigen dagegen wählten ihre Favoriten und formierten sich, um ihre Wahl zu unterstützen, in der Hoffnung, mit einem einflußreichen Posten belohnt zu werden, wenn ihre Auserwählte Prälatin wurde. Sobald das Feld der Kandidatinnen kleiner wurde, würde man die einflußreicheren Schwestern, die sich noch nicht entschieden hatten, hofieren, bis man sie auf die Seite der einen oder anderen führenden Schwester gezogen hätte. Es war eine folgenschwere Wahl, eine, die sich auf den Palast über Hunderte von Jahren auswirken würde. Aller Voraussicht nach würde es ein erbitterter Kampf werden.

Schwester Verna seufzte. »Ich sehe der Auseinandersetzung nicht mit Freude entgegen, doch vermutlich muß das Verfahren so streng sein, damit die Stärkste Prälatin wird. Kann sein, daß es sich lange hinzieht. Möglicherweise werden wir monatelang, vielleicht ein ganzes Jahr, ohne Prälatin sein.«

»Wen werdet Ihr unterstützen, Schwester?«

Sie lachte bellend auf. »Ich! Jetzt siehst du wieder nur die Fältchen, Warren. Sie ändern nichts daran, daß ich zu den jüngeren Schwestern gehöre. Ich habe keinerlei Einfluß.«

»Nun, ich denke, Ihr solltet besser dafür sorgen, daß Ihr ein wenig Einfluß bekommt.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme, obwohl niemand in der Nähe war. »Die sechs Schwestern der Finsternis, die auf dem Schiff entkommen sind, habt Ihr die schon vergessen?«

Sie blickte ihm in die blauen Augen und runzelte die Stirn. »Was hat das damit zu tun, wer Prälatin wird?«

Warren raffte sein Gewand über dem Bauch zusammen und verdrehte sie ungestüm zu einem Knoten. »Wer sagt denn, daß es nur sechs waren? Was, wenn es im Palast noch eine weitere gibt? Oder noch ein Dutzend? Oder hundert? Schwester Verna, Ihr seid die einzige Schwester, der ich traue, daß sie eine wahre Schwester des Lichts ist. Ihr müßt etwas unternehmen, um sicherzustellen, daß keine Schwester der Finsternis Prälatin wird.«

Sie sah kurz zum fernen Palast hinüber. »Ich sagte dir doch, ich bin eine der jüngeren Schwestern. Mein Wort hat kein Gewicht, und die anderen glauben, die Schwestern der Finsternis seien allesamt entkommen.«

Warren wandte den Blick ab, versuchte, die Falten in seinem Gewand zu glätten. Plötzlich drehte er sich wieder um, die Stirn mißtrauisch in Falten gelegt.

»Ihr glaubt, ich habe recht, nicht wahr? Ihr glaubt, daß es im Palast noch Schwestern der Finsternis gibt.«

Sie sah ihm gelassen in seine von Leidenschaft erfüllten Augen. »Ich halte das zwar nicht für völlig ausgeschlossen, trotzdem gibt es keinen Grund anzunehmen, daß es so ist, und davon abgesehen ist dies nur eins von vielen Dingen, die man in Betracht ziehen muß, wenn —«