»Kommt mir nicht mit diesem nichtssagenden Gerede, das den Schwestern so leicht über die Lippen geht. Die Sache ist wichtig.«
Schwester Verna richtete sich auf. »Du bist ein Student, Warren, der zu einer Schwester des Lichts spricht, also zeige den gebührenden Respekt.«
»Ich benehme mich nicht respektlos, Schwester. Richard hat mir geholfen zu erkennen, daß ich für mich selbst und das, woran ich glaube, geradestehen muß. Außerdem seid Ihr es doch gewesen, die mir den Halsring abgenommen hat. Und wie Ihr schon gesagt habt, sind wir im selben Alter, Ihr seid nicht älter als ich.«
»Trotzdem bist du ein Student, der —«
»Der, wie Ihr selbst gesagt habt, wahrscheinlich mehr als jeder andere über Prophezeiungen weiß. Schwester, Ihr seid meine Schülerin. Ich gebe zu, über eine große Zahl von Dingen wißt Ihr mehr als ich, wie zum Beispiel über den Gebrauch des Han, aber über andere weiß ich mehr als Ihr. Ihr habt mir den Rada’Han teils auch deshalb abgenommen, weil Ihr wißt, daß es falsch ist, jemanden gefangenzuhalten. Ich respektiere Euch als Schwester, für das Gute, das Ihr tut, und für das Wissen, das Ihr habt, aber ich kein Gefangener der Schwestern mehr. Ihr habt meinen Respekt verdient, Schwester, nicht meine Unterwerfung.«
Eine ganze Weile sah sie ihm prüfend in die blauen Augen. »Wer hätte geahnt, was sich unter dem Halsring verbirgt.« Schließlich nickte sie. »Du hast recht, Warren. Ich fürchte, es gibt noch andere im Palast, die dem Hüter persönlich einen Eid auf ihre Seele geschworen haben.«
»Andere.« Warren sah ihr forschend in die Augen. »Ihr habt nicht ›Schwestern‹ gesagt, Ihr habt ›andere‹ gesagt. Damit meint Ihr auch junge Zauberer, nicht wahr?«
»Hast du Jedidiah schon vergessen?«
Er wurde ein wenig blaß. »Nein, ich habe Jedidiah nicht vergessen.«
»Wie du schon sagtest, wo es einen gibt, könnten auch noch andere sein. Durchaus möglich, daß sich einige der jungen Männer im Palast ebenfalls dem Hüter verschworen haben.«
Er beugte sich näher zu ihr und verdrehte erneut sein Gewand. »Was sollen wir dagegen tun, Schwester Verna? Wir dürfen keine Schwester der Finsternis Prälatin werden lassen, das wäre eine Katastrophe. Das darf nicht geschehen!«
»Und woher sollen wir das wissen, wenn sie sich dem Hüter verschworen haben? Sie beherrschen subtraktive Magie, wir nicht. Selbst wenn wir dahinterkämen, wer sie sind, wir könnten nichts dagegen tun. Es wäre, als griffe man in einen Sack und packte eine Viper beim Schwanz.«
Warren erbleichte. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«
Schwester Verna faltete die Hände. »Wir werden uns etwas einfallen lassen. Vielleicht wird der Schöpfer uns den Weg weisen.«
»Vielleicht können wir Richard dazu bringen, zurückzukehren und uns zu helfen, wie er es schon bei den sechs Schwestern der Finsternis getan hat. Die sechs sind wir wenigstens los. Die werden sich nie wieder blicken lassen. Richard hat ihnen Angst vor dem Schöpfer eingejagt und sie in die Flucht geschlagen.«
»Aber dabei wurde die Prälatin verletzt, woraufhin sie später zusammen mit Nathan starb«, erinnerte sie ihn. »Der Tod ist ständiger Begleiter dieses Mannes.«
»Aber nicht, weil er ihn mit sich bringt«, protestierte Warren. »Richard ist ein Kriegszauberer. Er kämpft für das, was rechtens ist, um den Menschen zu helfen. Ohne sein Eingreifen wären die Prälatin und Nathan nur die ersten Opfer all des Sterbens und der Zerstörung gewesen.«
Sie drückte seinen Arm, ihr Ton wurde sanfter. »Du hast natürlich recht. Wir alle sind Richard eine Menge schuldig. Aber ihn zu brauchen und ihn zu finden ist zweierlei. Meine Falten sind der Beweis dafür.« Schwester Verna nahm die Hand zurück. »Ich glaube nicht, daß wir auf jemand anderes zählen können als aufeinander. Wir werden uns etwas einfallen lassen.«
Warren fixierte sie mit düsterer Miene. »Das sollten wir auch — denn die Prophezeiungen enthalten unheilvolle Vorzeichen über die Herrschaft der nächsten Prälatin.«
Zurück in der Stadt Tanimura waren sie erneut umgeben vom unablässigen Klang der Trommeln, der aus verschiedenen Richtungen kam — ein dröhnender, dunkler, gleichförmiger Rhythmus, der tief in ihrer Brust zu vibrieren schien. Er war zermürbend und sollte es wohl auch sein.
Die Trommler und ihre Bewacher waren drei Tage vor dem Tod der Prälatin eingetroffen und hatten unverzüglich ihre riesigen Kesselpauken an verschiedenen Orten überall in der Stadt aufgestellt. Seit sie mit ihrem langsamen, gleichförmigen Trommelschlag begonnen hatten, hatte dieser nicht mehr aufgehört, weder bei Tag noch bei Nacht. Die Männer wechselten sich an den Trommeln ab, so daß sie niemals aussetzten, auch nicht für einen einzigen Augenblick.
Das alles beherrschende Geräusch hatte die Menschen in einen Zustand äußerster Gereiztheit versetzt. Alle waren nervös und brausten leicht auf, so als lauerte in den Schatten die Verdammnis, bereit zuzuschlagen. Anstelle des üblichen Geschreis, der Unterhaltungen, des Gelächters und der Musik hatte sich eine gespenstische Stille über alles gelegt — was die düstere Stimmung noch unterstrich.
An den Rändern der Stadt kauerten die Bedürftigen in den selbst errichteten Schuppen, statt sich zu unterhalten, kleine Gegenstände auf der Straße zu verhökern, Wäsche in Eimern zu waschen oder wie gewohnt auf kleinen Feuern zu kochen. Ladenbesitzer standen in den Türen oder an einfachen Plankentischen, die sie aufgestellt hatten, um ihre Waren auszubreiten, die Arme verschränkt, einen finsteren Ausdruck im Gesicht. Männer, die Karren zogen, gingen trübsinnig ihrer Arbeit nach. Wer etwas brauchte, tätigte den Einkauf hastig und prüfte die Waren bestenfalls flüchtig. Kinder klammerten sich an den Rock ihrer Mutter, während ihre Augen unruhig umherwanderten. Männer, die sie früher beim Würfeln oder anderen Spielen gesehen hatte, drückten sich an Mauern herum.
In der Ferne, im Palast der Propheten, schlug alle paar Minuten eine einzelne Glocke, so wie sie es die ganze vergangene Nacht über getan hatte und noch bis zum Sonnenuntergang tun würde, und kündete vom Tod der Prälatin. Die Trommeln dagegen hatten mit dem Tod der Prälatin nichts zu tun, sie kündigten die bevorstehende Ankunft des Kaisers an.
Schwester Verna sah einigen Leuten im Vorübergehen in die sorgenvollen Augen. Sie berührte die Köpfe der Menschen, die sich ihr in Gruppen auf der Suche nach Trost näherten und erteilte ihnen den Segen des Schöpfers. »Ich kenne nur Könige«, sagte sie zu Warren, »und nicht diese Imperiale Ordnung. Wer ist dieser Kaiser?«
»Sein Name ist Jagang. Vor zehn, vielleicht fünfzehn Jahren, ging die Imperiale Ordnung dazu über, Königreiche zu schlucken und sie unter ihrer Herrschaft zu vereinen.« Er strich sich nachdenklich mit einem Finger über die Schläfe. »Ihr müßt wissen, den größten Teil meiner Zeit habe ich mit Studieren in den Gewölbekellern verbracht, daher kenne ich die Einzelheiten nicht so genau, doch nach dem, was ich mir zusammengereimt habe, ist es ihnen rasch gelungen, die Alte Welt unter ihre Herrschaft zu bringen und zu vereinen. Der Kaiser hat noch nie Schwierigkeiten gemacht. Jedenfalls nicht hier, so weit oben in Tanimura. Er hält sich aus den Belangen des Palastes heraus und erwartet, daß wir uns aus seinen heraushalten.«
»Warum kommt er her?«
Warren zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil er diesen Teil seines Reiches besuchen möchte.«
Schwester Verna hatte gerade einer ausgezehrten Frau den Segen des Schöpfers erteilt, dann mußte sie einem Haufen frischen Pferdekots ausweichen. »Nun, ich wünschte, er würde sich beeilen und bald herkommen, damit dieses infernalische Getrommel aufhört. Jetzt machen sie das schon vier Tage lang, seine Ankunft steht sicher jeden Augenblick bevor.«
Warren sah sich um, bevor er sprach. »Die Palastwachen gehören zu den Soldaten der Imperialen Ordnung. Der Kaiser stellt sie aus Gefälligkeit zur Verfügung, da er nur seinen eigenen Leuten gestattet, Waffen zu tragen. Wie auch immer, ich habe mit einem der Posten gesprochen, und der erzählte mir, die Trommeln verkündeten lediglich, daß der Kaiser kommt, nicht, ob dies bald geschieht. Er sagte, beim Besuch des Kaisers in Branston seien die Trommeln zuvor fast sechs Monate lang erklungen.«