»Sechs Monate! Willst du damit sagen, wir müssen diesen Lärm sechs Monate lang ertragen!«
Warren raffte sein Gewand zusammen und stieg über eine Pfütze hinweg. »Nicht unbedingt. Vielleicht trifft er erst in ein paar Monaten ein, vielleicht morgen. Er läßt sich nicht dazu herab, anzukündigen, wann er eintrifft, nur daß er überhaupt kommt.«
Schwester Verna zog eine finstere Miene. »Na, wenn er nicht bald kommt, werden die Schwestern dafür sorgen, daß dieses infernalische Getrommel ein Ende hat.«
»Ich hätte nichts dagegen. Aber mit diesem Kaiser sollte man es sich besser nicht verscherzen. Ich habe gehört, er besitzt die größte Armee, die je aufgestellt wurde.« Er warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Den Großen Krieg eingeschlossen, der die Alte von der Neuen Welt getrennt hat.«
Sie kniff die Augen zusammen. »Wozu braucht er eine solche Armee, wenn er doch bereits alle alten Königreiche erobert hat? Für mich klingt das wie müßiges Geschwätz von Soldaten. Soldaten geben immer gerne an.«
Warren zuckte die Schultern. »Die Posten haben mir erzählt, sie hätten sie mit ihren eigenen Augen gesehen. Sie meinten, wenn sich die Truppen der Imperialen Ordnung zusammenziehen würden, dann bedeckten sie den Erdboden in alle Richtungen, so weit das Auge reicht. Was denkt man im Palast darüber, daß er herkommt?«
»Bah. Im Palast interessiert sich niemand für Politik.«
Warren feixte. »Ihr habt Euch doch noch nie einschüchtern lassen.«
»Es ist unsere Aufgabe, uns um die Wünsche des Schöpfers zu kümmern, nicht die irgendeines Kaisers, das ist alles. Der Palast wird noch Bestand haben, wenn er längst abgetreten ist.«
Sie waren schon eine Weile schweigend weitergegangen, als Warren sich räusperte. »Wißt Ihr, vor langer Zeit, wir waren noch nicht lange hier, und Ihr wart noch Novizin … also, da war ich sehr angetan von Euch.«
Schwester Verna sah ihn ungläubig an. »Jetzt machst du dich über mich lustig.«
»Nein, es ist wahr.« Er errötete. »Ich fand, Euer lockiges braunes Haar war das schönste, das ich je gesehen hatte. Ihr wart klüger als die anderen und wußtet Euer Han sicher zu beherrschen. Ich glaubte, niemand sei Euch ebenbürtig. Ich wollte Euch bitten, mit mir zu studieren.«
»Warum hast du es nicht getan?«
Er zuckte die Achseln. »Ihr wart immer so selbstbewußt, so sicher. Ich nie.« Er strich sich verlegen das Haar zurück. »Außerdem hattet Ihr ein Auge auf Jedidiah geworfen. Verglichen mit ihm war ich ein Nichts. Ich habe immer geglaubt, Ihr würdet mich doch nur auslachen.«
Sie merkte, daß sie sich das Haar zurückstrich, und nahm den Arm herunter. »Nun, vielleicht hätte ich das auch getan.«
Dann besann sie sich ob ihrer Kränkung eines Besseren. »Menschen sind manchmal töricht, wenn sie jung sind.« Eine Frau mit einem kleinen Kind kam auf sie zu und fiel vor ihnen auf die Knie. Verna blieb stehen, um den beiden den Segen des Schöpfers zu erteilen. Die Frau bedankte sich bei ihr, dann eilte sie schnell von dannen, und Schwester Verna wandte sich wieder Warren zu. »Du könntest doch für zwanzig Jahre oder so fortgehen und diese Bücher studieren, die dich so interessieren, und mich dann altersmäßig einholen. Wir sähen wieder so aus, als wären wir im selben Alter. Dann könntest du mich fragen, ob du meine Hand halten darfst … so wie ich es mir damals von dir gewünscht habe.«
Sie sahen beide auf, als jemand nach ihnen rief. Hinter der wogenden Menschenmenge erblickten sie einen Soldaten der Palastwache, der winkend ihre Aufmerksamkeit zu erregen versuchte.
»Ist das nicht Kevin Andellmere?« fragte sie.
Warren nickte. »Ich frage mich nur, was ihn so in Aufregung versetzt hat.«
Atemlos setzte Schwertmann Andellmere über einen kleinen Jungen hinweg und kam stolpernd vor ihnen zum Stehen. »Schwester Verna! Gut! Endlich hab’ ich Euch gefunden. Man verlangt nach Euch. Im Palast. Sofort.«
»Wer verlangt nach mir? Um was geht es?«
Er schlang Luft hinunter und versuchte gleichzeitig zu sprechen. »Die Schwestern verlangen nach Euch. Schwester Leoma hat mich am Ohr gepackt, damit ich euch finde und zurückbringe. Sie meinte, wenn ich trödeln würde, dann würde ich den Tag bereuen, an dem meine Mutter mich zur Welt gebracht hat. Sicherlich gibt es Schwierigkeiten.«
»Was für Schwierigkeiten?«
Er warf die Hände in die Luft. »Als ich danach fragte, haben sie mich mit diesem Blick angesehen, der die Knochen eines Mannes erweichen kann, und mir gesagt, das ginge nur die Schwestern etwas an, nicht mich.«
Schwester Verna stieß einen müden Seufzer aus. »Ich denke, dann wird es wohl das Beste sein, wenn wir mit dir zurückkehren, sonst ziehen sie dir womöglich noch das Fell über die Ohren und benutzen es als Flagge.«
Der junge Soldat erbleichte, als würde er das keinesfalls für unmöglich halten.
6
Auf der gewölbten Steinbrücke, die über den Flußkern zur Insel Drahle und dem Palast der Propheten führte, standen in einer Reihe, Schulter an Schulter, die Schwestern Philippa, Dulcinia und Maren — wie drei Habichte, die auf ihr abendliches Fressen lauerten. Sie hatten die Hände ungeduldig in die Hüften gestemmt. Die Sonne stand hinter ihnen, daher lagen ihre Gesichter im Schatten, trotzdem konnte Schwester Verna ihre finsteren Mienen erkennen. Warren betrat zusammen mit ihr die Brücke, Schwertmann Andellmere dagegen hatte seinen Auftrag erledigt und entfernte sich hastig in eine andere Richtung.
Die grauhaarige Schwester Dulcinia, die Zähne fest zusammengebissen, beugte sich vor, als Schwester Verna vor ihr stehenblieb. »Wo hast du gesteckt! Du hast uns alle warten lassen!«
Die Trommeln in der Stadt schlugen unbeirrt weiter ihren Takt im Hintergrund — dem langsamen Tröpfeln von Regen gleich. Schwester Verna verbannte sie aus ihren Gedanken.
»Ich war spazieren und habe über die Zukunft des Palastes und das Werk des Schöpfers nachgedacht. Ich hatte nicht erwartet, daß die Verleumdungen schon so früh beginnen würden, wo doch Prälatin Annalinas Asche kaum erkaltet ist.«
Schwester Dulcinia beugte sich noch weiter vor, ihre stechenden blauen Augen bekamen einen gefährlichen Schimmer. »Wage es nicht, uns gegenüber unverschämt zu sein, Schwester Verna, oder du wirst dich sehr schnell als Novizin wiederfinden. Jetzt, da du in das Leben im Palast zurückgekehrt bist, tätest du gut daran, dir die Gepflogenheiten hier wieder ins Gedächtnis zu rufen und deinen Vorgesetzten den gehörigen Respekt zu erweisen.«
Schwester Dulcinia richtete sich wieder auf, so als zöge sie ihre Krallen zurück, jetzt, nachdem die Drohung ausgesprochen war. Sie erwartete keinen Widerspruch. Schwester Maren, eine stämmige Frau mit Muskeln wie ein Waldarbeiter und der dazugehörigen Zunge, lächelte zufrieden. Die große, düstere Schwester Philippa, deren vorstehende Wangenknochen und schmaler Kiefer ihr ein exotisches Aussehen verliehen, hielt ihre dunklen Augen auf Schwester Verna gerichtet und beobachtete sie mit ausdrucksloser Miene.
»Meine Vorgesetzten?« fragte Schwester Verna. »In den Augen des Schöpfers sind wir alle gleich.«
»Gleich!« Schwester Maren schnaubte gereizt. »Eine interessante Vorstellung. Wenn wir eine Revisionsverhandlung einberiefen, um über den Fall deines zänkischen Verhaltens zu beraten, dann würdest du schon sehen, wie ›gleich‹ du bist. Und sehr wahrscheinlich würdest du dich zusammen mit meinen übrigen Novizinnen bei der Hausarbeit wiederfinden, nur wäre diesmal kein Richard hier, der sich einmischen und dich dort rausholen würde.«
»Tatsächlich, Schwester Maren.« Schwester Verna zog eine Braue hoch. »Was Ihr nicht sagt.« Warren schob sich langsam hinter sie, in ihren Schatten. »Wenn ich mich recht erinnere, und bitte verbessert mich, wenn ich mich irre, so habt Ihr beim letzten Mal, als ich ›dort rauskam‹ gesagt, dies sei deshalb geschehen, weil Ihr zum Schöpfer gebetet hättet und dabei darauf gekommen wärt, ich könnte Ihm besser dienen, wenn man mich wieder zur Schwester machte. Und jetzt sagt Ihr, es sei Richards Werk gewesen. Ist meine Erinnerung falsch?«