»Ich wußte nicht, was dieses Wesen unter dem Kies war, Kahlan. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.« Er kratzte sich am Ellenbogen. »Also gut, schön, ich habe mich davor gefürchtet. Ich wollte vorsichtig sein. Ich wußte nicht, daß diese Tür so gefährlich war.«
Sie warf einen verzweifelten Blick gen Himmel. »Richard, du hättest —«
»Ich bin in der Burg nicht umgekommen, ich habe die Sliph entdeckt, und ich habe es geschafft, dich zu finden. Und jetzt los. Wir müssen hinunter in die Stadt.«
Sie legte ihm den Arm um die Hüfte. »Du hast recht. Wahrscheinlich bin ich bloß nervös wegen…« Sie zeigte auf die Tür. »Wegen allem, was da drinnen geschehen ist. Diese Mriswithkönigin hat mir angst gemacht. Ich bin nur froh, daß du es geschafft hast.«
Arm in Arm liefen sie durch den hoch aufragenden Bogen, der durch die Außenmauer führte.
Als sie unter dem gewaltigen Fallgitter durch liefen, peitschte ein mächtiger roter Schwanz um die Ecke und fällte sie beide. Richard hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, wieder zu Atem zu kommen, als bereits rote Flügel über ihnen flatterten. Krallen rissen an ihm. Er spürte einen brennenden Schmerz in seiner linken Schulter, als eine Kralle ihn auf den Haken nahm. Kahlan wurde von dem dreschenden Schwanz über den Boden gewälzt.
Noch während er von der in seiner Schulter steckenden Klaue immer näher an den klaffenden Schlund herangehievt wurde, riß Richard sein Schwert heraus. Augenblicklich überflutete ihn der Zorn. Er schlitzte einen Flügel auf. Die Königin zuckte zurück und zog dabei die Klaue aus seiner Schulter zurück. Der Zorn der Magie half ihm, die Schmerzen zu ignorieren, als er auf die Füße sprang.
Er stach mit dem Schwert zu, als die Bestie einen Satz in seine Richtung machte und mit den Kiefern nach ihm schnappte. Sie schien nur aus Flügeln, Reißzähnen, Krallen und Schwanz zu bestehen, als sie auf ihn losging und er hastig zurückwich. Richard durchbohrte einen Arm, und die Königin fuhr unter Schmerzen zurück. Ihr Schwanz peitschte nach vorn, erwischte ihn quer über den Leib und schleuderte ihn gegen die Wand. Er hackte wild auf den Schwanz ein und kappte dessen Spitze.
Die rote Mriswithkönigin stellte sich unter dem dornenbesetzten Fallgitter auf die Hinterbeine. Richard hechtete zum Hebel und prallte mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Mit einem scheppernden Kreischen stürzte das Gatter auf die tobende Bestie herab. Die Königin drehte sich zur Seite, als das Tor, knapp ihren Rücken verfehlend, krachend niederging, dabei aber einen Flügel erwischte und ihn auf dem Boden festspießte. Ihr Geheul wurde noch lauter.
Richard erstarrte in kaltem Schrecken, als er sah, daß Kahlan zu Boden gegangen war — auf der anderen Seite des Tores. Die Königin hatte sie ebenfalls entdeckt. Sie zerrte ihren Flügel mit übermächtiger Anstrengung unter dem Tor hervor und zerriß ihn dabei zu langen, ausgefransten Fetzen.
»Kahlan, fliehe!«
Kahlan versuchte, benommen fortzukriechen, doch die Bestie schlug zu. Sie bekam die Mutter Konfessor an einem Bein zu fassen und hielt sie fest.
Die Königin drehte sich um und spie einen fauligen Gestank in seine Richtung. Richard hatte keine Mühe zu verstehen, was sie wollte: Rache.
Mit irrwitziger Anstrengung zerrte er an dem Rad, mit dem das Tor angehoben wurde. Es hob sich mit jedem Ruck nur um wenige Zentimeter. Die Königin wand sich die Straße hinunter, Kahlan am Bein hinter sich herschleifend.
Richard ließ das Rad los und drosch, getrieben von der Raserei der Magie, mit dem Schwert auf die flachen Bandeisen des Fallgitters ein. Funken und heiße Stahlsplitter segelten rauchend davon. Brüllend vor Wut schlug er erneut mit dem Schwert auf das Eisen und riß eine weitere Lücke in das Gitter. Ein dritter Schlag, und er hatte ein Stück herausgeschnitten. Er trat es nieder und stürzte sich durch die Öffnung.
Richard rannte die Straße hinunter, der entkommenden Bestie hinterher. Kahlan krallte sich im verzweifelten Versuch, sich zu befreien, in den Erdboden. Als sie die Brücke erreichte, sprang die Königin auf deren Seitenmauer und knurrte Richard fauchend an, der in vollem Tempo auf sie zugerannt kam.
Die Königin schlug mit den zerfetzten Flügeln, als sei ihr nicht klar, daß sie nicht fliegen konnte. Immer noch in vollem Lauf stieß Richard einen Schrei aus, als sie sich umdrehte und die Flügel ausbreitete, bereit, mit ihrer Beute von der Brücke abzuspringen.
Der Schwanz wischte quer über die Straße, als Richard auf die Brücke zugerannt kam. Er stutzte ihn um ein sechs Fuß großes Stück. Die Königin wirbelte herum, Kahlan wie eine Marionette verkehrt herum am Bein festhaltend. Richard, jenseits vernunftgesteuerter Gedanken, schwang das Schwert in blindem Zorn, als sie nach ihm schnappte. Übersprüht vom Blut der Bestie, hackte er die Vorderseite eines Flügels ab, dessen Knochen unter seiner Klinge zu weißen Trümmern zersplitterten. Sie schlug mit dem gestutzten Schwanz nach ihm und flatterte mit dem anderen zerfleischten Flügel. Schreiend reckte sich Kahlan mit ausgestreckten Fingern nach Richard und verfehlte ihn knapp. Er jagte das Schwert in den roten Bauch. Eine rote Kralle riß Kahlan fort, als er versuchte, ihre Hand zu packen. Richard schnitt den anderen Flügel an der Schulter ab. Blut sprühte in die Luft, als die tobende Bestie sich mal hier-, mal dorthin wand und versuchte, an ihn heranzukommen. Das stinkende Blut verteilte sich überall, und die Bewegungen der Königin wurden träge. Dadurch bekam Richard Gelegenheit, ihr weitere Wunden beizubringen.
Richard sprang vor, bekam Kahlans Handgelenk zu fassen und sie seines. Dabei bohrte er das Schwert bis zum Heft in die Unterseite der schwellenden, roten Brust. Das war ein Fehler.
Die tödlich verwundete Mriswithkönigin hielt Kahlans Bein in tödlich festem Griff. Die rote Bestie wankte und stürzte mit einer alptraumhaft langsamen Drehung von der Brücke in den gähnend tiefen Abgrund. Kahlan kreischte. Richard packte mit all seiner Kraft zu. Der Absturz der Königin erzeugte an seinem Arm einen Zug, der ihn mit dem Bauch krachend gegen die Mauer über dem schwindelerregenden Abgrund riß.
Richard schwang das Schwert über den Mauerrand hinweg und kappte mit einem mächtigen Hieb den Arm, der Kahlans Bein umklammert hielt. Die rote Bestie trudelte in den Abgrund zwischen den jähen, Tausende von Fuß abfallenden Wänden, um in der Ferne ganz weit unten zu verschwinden.
Kahlan hing an seiner Hand über ebendiesem Abgrund. Blut lief seinen Arm hinunter und über ihre Hände. Er spürte, wie ihr Handgelenk seinem Griff zu entgleiten begann. Nur seine Hüften verhinderten noch, daß er selbst über die Mauer ging.
Mit einer gewaltigen Anstrengung zog er sie ein, zwei Fuß hinauf. »Pack die Mauer mit der anderen Hand. Ich kann dich nicht mehr halten. Du rutschst.«
Kahlan klatschte ihre freie Hand oben auf die steinerne Mauer und fing so einen Teil ihres Gewichts ab. Richard warf das Schwert hinter sich auf die Straße und faßte mit der jetzt freien Hand unter ihren Arm. Er biß die Zähne zusammen und zog sie mit ihrer Hilfe über die Mauer auf die Straße.
»Mach sie ab!« schrie sie. »Mach sie ab!«
Richard stemmte die Klauen auseinander und zog das Bein heraus. Er schleuderte den roten Arm über den Mauerrand. Keuchend vor Erschöpfung sank Kahlan in seine Arme, zu erschöpft, um ein einziges Wort hervorzubringen. Trotz seiner pochenden Schmerzen spürte Richard das berauschende, warme Gefühl der Erleichterung. »Wieso hast du nicht deine Kraft benutzt … die Blitze?«
»Unten in der Burg wollte es nicht funktionieren, und hier draußen hatte mich diese Bestie besinnungslos geschlagen. Wieso hast du deine nicht benutzt — ein paar von diesen angsteinflößenden Blitzen wie im Palast der Propheten?«
Richard dachte über die Frage nach. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, wie meine Gabe funktioniert. Es hat etwas mit Instinkt zu tun. Ich kann sie nicht zwingen, nach Belieben zu funktionieren.« Er strich ihr mit einer Hand übers Haar und schloß die Augen.