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Wenn du lebend diesem Netz entkommen willst, stecke dir den Ring auf den dritten Finger deiner linken Hand, küsse ihn, dann erbrich das Siegel und lies meine Worte darin den anderen Schwestern vor — Prälatin Annalina Aldurren.

Schwester Vernas Atem ging flach und schwer, als sie den Ring über den dritten Finger ihrer linken Hand streifte. Sie führte die Hand an die Lippen und küßte den Ring, während sie den Schöpfer in einem stummen Gebet um Unterweisung und Kraft bat. Sie zuckte zusammen, als ein Lichtstrahl aus der Gestalt des Schöpfers über ihr hervorschoß und sie in einen gleißend hellen Lichtkegel hüllte. Die Luft ringsum summte deutlich hörbar. Überall im Saal waren Schreie und Protestrufe der Schwestern zu hören, doch in dem Licht, in dem sie stand, konnte sie niemanden erkennen.

Schwester Verna nahm das Pergament in die zitternden Hände. Das Summen in der Luft wurde lauter. Sie wollte fortlaufen, brach statt dessen das Siegel. Der Lichtkegel, der aus dem Abbild des Schöpfers über ihr kam, nahm an Helligkeit zu, bis er gleißend hell erstrahlte.

Schwester Verna faltete das Pergament auseinander und hob den Kopf, obwohl sie die Gesichter ringsum nicht erkennen konnte. »Man hat mich bei Todesstrafe angewiesen, diesen Brief hier vorzulesen.«

Niemand erwiderte etwas, also richtete sie den Blick auf die säuberlich geschriebenen Worte. »Hier steht: ›So sollen alle hier Versammelten sowie die Nichtanwesenden meinen letzten Befehl vernehmen.‹« Schwester Verna hielt inne und mußte schlucken, als den Schwestern vor Schreck der Atem stockte.

»›Die Zeiten sind schwierig, und der Palast kann sich einen langen Kampf um meine Nachfolge nicht leisten. Und einen solchen werde ich auch nicht zulassen. Hiermit übe ich mein Hoheitsrecht als Prälatin aus, wie es im Kanon des Palastes festgeschrieben steht, und ernenne meine Nachfolgerin. Sie steht vor euch und trägt den Ring ihres Amtes. Die Schwester, die dies verliest, ist von nun an Prälatin. Die Schwestern des Lichts werden ihr gehorchen. Alle werden ihr gehorchen.

Der Bann, den ich über dem Ring zurückgelassen habe, wurde mit der Hilfe und der Anleitung des Schöpfers selbst eingerichtet. Widersetzt ihr euch meinem Ansinnen, so tut ihr dies auf eigene Gefahr.

Es ist eure Pflicht, der neuen Prälatin zu dienen und den Palast der Propheten und alles, wofür er steht, zu beschützen. Möge das Licht euch beistehen und euch immer führen.

Geschrieben eigenhändig, bevor ich aus diesem Leben in die sanften Hände des Schöpfers hinüberwandle — Prälatin Annalina Aldurren.‹«

Mit einem Donnerschlag, der den Boden unter ihren Füßen erzittern ließ, erloschen der Lichtkegel und der Lichtschein, der sie umhüllte.

Verna Sauventreen ließ die Hand mit dem Brief sinken, hob den Kopf und sah die überwältigten Gesichter ringsum. Ein leises Rascheln ging durch den Saal, als die Schwestern des Lichts sich auf ein Knie niederließen und vor ihrer neuen Prälatin den Kopf beugten.

»Das kann nicht sein«, sagte sie leise bei sich.

Schleppenden Schritts ging sie über den blankpolierten Boden und ließ den Brief aus den Fingern gleiten. Von hinten kamen Schwestern vorsichtig herbeigeeilt und schnappten nach dem Brief, um die letzten Worte von Prälatin Annalina Aldurren mit eigenen Augen nachzulesen.

Die vier Schwestern erhoben sich, als sie näher kam. Schwester Marens feines, sandfarbenes Haar umrahmte ein aschfahles Gesicht. Schwester Dulcinias blaue Augen waren weit aufgerissen und ihr Gesicht gerötet. Schwester Philippas sonst so gelassener Gesichtsausdruck bot jetzt ein Bild der Bestürzung.

Schwester Leomas faltige Wangen verzogen sich zu einem breiten, freundlichen Lächeln. »Ihr werdet Rat und Unterweisung brauchen, Schw … Prälatin.« Ihr Lächeln war dahin, als sie gegen ihren Willen schlucken mußte. »Wir stehen bereit, Euch auf jede Weise zu helfen, wo wir nur können. Wir stehen zu Eurer Verfügung. Wir sind dazu da, um Euch zu dienen…«

»Danke«, sagte Schwester Verna mit schwacher Stimme, als sie sich wieder auf den Weg nach draußen machte. Ihre Füße schienen sich von ganz allein zu bewegen.

Draußen wartete Warren. Sie drückte die Türen zu und stand wie benommen vor dem jungen, blonden Zauberer. Warren ließ sich mit tiefer Verbeugung auf ein Knie nieder.

»Prälatin.« Er sah grinsend auf. »Ich habe an der Tür gelauscht«, erklärte er.

»Nenne mich nicht so.« Die eigene Stimme klang hohl in ihren Ohren.

»Warum nicht? Das ist es doch, was Ihr jetzt seid.« Sein Grinsen wurde breiter. »Das ist —«

Sie drehte sich um und wollte gehen. Endlich begann ihr Verstand wieder zu funktionieren. »Komm mit.«

»Wo gehen wir hin?«

Verna legte den Zeigefinger an die Lippen und warf ihm über ihre Schulter einen finsteren Blick zu, und sofort schloß er den Mund. Warren mußte sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten, als sie davonmarschierte. Sie schickte sich an, den Palast der Propheten zu verlassen. Wann immer er den Mund abermals öffnen wollte, legte sie erneut den Finger an die Lippen. Schließlich seufzte er, stopfte seine Hände in die Ärmel seines Gewandes, richtete den Blick nach vorn und lief neben ihr her.

Draußen vor dem Palast standen Novizinnen und junge Männer, die das Glockenläuten gehört hatten, mit dem die Ernennung der neuen Prälatin verkündet wurde, sahen den Ring und verbeugten sich. Verna ging an ihnen vorbei, den Blick nach vorn gerichtet. Als sie die Brücke über den Kern überquerte, verbeugten sich die Wachen.

Am Ende der Brücke stieg sie zum Ufer hinab und lief den Pfad durch die Binsen entlang. Warren mußte sich noch immer beeilen, um mit ihr Schritt zu halten, als sie an den kleinen Anlegestellen vorüberging, die jetzt alle verlassen dalagen, weil die Boote sich draußen auf dem Fluß befanden und ihre Fischer, langsam flußabwärts rudernd, Netze auswarfen oder Leinen hinter sich herzogen. Bald würden sie zurückkommen, um ihren Fisch auf dem Markt in der Stadt zu verkaufen.

Ein Stück flußaufwärts vom Palast der Propheten, an einer menschenleeren, flachen Stelle in der Nähe eines hier zutage tretenden Felsens, den das Wasser gurgelnd und plätschernd umspielte, blieb sie stehen. Sie blickte finster in das wirbelnde Wasser und stemmte ihre Fäuste in die Hüften.

»Eins schwöre ich, wäre diese aufdringliche alte Frau nicht tot, ich würde sie mit bloßen Händen erwürgen.«

»Wovon redet Ihr?« fragte Warren.

»Von der Prälatin. Wäre sie in diesem Augenblick nicht in den Händen des Schöpfers, ich würde ihr meine um den Hals legen.«

Warren lachte stillvergnügt in sich hinein. »Das wäre ein recht seltsamer Anblick, Prälatin.«

»Nenne mich nicht so!«

Waren runzelte die Stirn. »Aber das seid Ihr doch jetzt: die Prälatin.«

Sie packte sein Gewand mit beiden Fäusten an den Schultern. »Warren, du mußt mir helfen. Du mußt mich aus dieser Geschichte rausholen.«

»Was! Aber das ist doch wunderbar! Verna, Ihr seid nun Prälatin!«

»Nein. Das kann ich nicht. Warren, du kennst alle Bücher in den Gewölbekellern unten, du hast die Gesetze des Palastes studiert — du mußt etwas finden, um mich aus dieser Lage zu befreien. Es muß einen Weg geben. Es gibt in den Büchern bestimmt etwas, wodurch dies verhindert werden kann.«

»Verhindert? Es ist bereits geschehen. Und davon abgesehen, etwas Besseres hätte gar nicht passieren können.« Er neigte den Kopf fragend zur Seite. »Warum habt Ihr mich den weiten Weg hierhergebracht?«

Sie ließ sein Gewand los. »Denk nach, Warren. Warum wurde die Prälatin umgebracht?«

»Sie wurde von Schwester Ulicia getötet, einer der Schwestern der Finsternis. Sie wurde getötet, weil sie gegen deren Bosheit gekämpft hat.«