»Nein, Warren, ich sagte, denk nach. Sie wurde umgebracht, weil sie mir eines Tages in ihrem Büro erklärte, sie wisse über die Schwestern der Finsternis Bescheid. Schwester Ulicia war eine ihrer Verwalterinnen und hat gelauscht, als die Prälatin ihr Wissen preisgegeben hat.« Sie beugte sich zu ihm vor. »Der Raum war abgeschirmt, dafür hatte ich gesorgt. Aber damals war mir nicht klar, daß die Schwestern der Finsternis möglicherweise Subtraktive Magie anwenden können. Schwester Ulicia lauschte durch den Schild hindurch, kam zurück und tötete die Prälatin. Hier draußen können wir sehen, ob jemand nah genug ist, um uns sprechen zu hören, hier gibt es keine Ecke, hinter der man sich verstecken könnte.« Sie deutete mit dem Kopf auf das plätschernde Wasser. »Und das Wasser übertönt den Klang unserer Stimmen.«
Warren sah sich nervös um. »Ich verstehe, was Ihr meint. Aber Prälatin, manchmal trägt das Wasser Geräusche ziemlich weit.«
»Ich sagte, hör auf, mich so zu nennen. Bei all den Geräuschen ringsum, und wenn wir leise sprechen, wird das Wasser unsere Stimmen übertönen. Wir dürfen nicht riskieren, im Palast ein einziges Wort darüber zu verlieren. Wenn wir darüber sprechen müssen, dann werden wir stets nach draußen aufs Land gehen, wo wir sehen können, ob jemand in der Nähe ist. So, und jetzt wirst du einen Weg finden, wie ich aus dem Amt der Prälatin entlassen werden kann.«
Warren stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »Hört doch endlich auf damit. Ihr seid für die Stellung als Prälatin qualifiziert, vielleicht mehr als irgendeine der anderen Schwestern. Die Prälatin muß, abgesehen von Erfahrung, über außergewöhnliche Kraft verfügen.« Er wandte den Blick ab, als sie eine Braue hochzog. »Ich habe uneingeschränkten Zugang zu allem, was in den Gewölbekellern lagert. Ich habe die Berichte gelesen.« Er sah sie wieder an. »Als Ihr Richard gefangennahmt, sind die beiden anderen Schwestern gestorben, und dabei haben sie ihre Kraft an Euch weitergegeben. Ihr besitzt die Kraft, das Han, dreier Schwestern.«
»Das ist wohl kaum die einzige Anforderung, Warren.«
Er beugte sich vor. »Wie gesagt, ich habe uneingeschränkten Zugang zu den Büchern. Ich kenne die Anforderungen. Es gibt nichts, was Euch die Berechtigung absprechen könnte, Ihr erfüllt sämtliche Bedingungen. Ihr solltet Mut daraus schöpfen, Prälatin zu sein. Das ist das Beste, was passieren konnte.«
Schwester Verna seufzte. »Hast du mit deinem Halsring auch deinen Verstand verloren? Welchen Grund sollte ich haben, Prälatin sein zu wollen?«
»Jetzt können wir den Schwestern der Finsternis auf die Schliche kommen.« Warren setzte ein vertrauliches Lächeln auf. »Ihr werdet die Machtbefugnis haben, das zu tun, was getan werden muß.« Seine blauen Augen funkelten. »Wie gesagt, das ist das Allerbeste, was passieren konnte.«
Sie warf die Hände in die Luft. »Warren, daß ich Prälatin geworden bin, ist das Allerschlimmste, was passieren konnte. Diese Machtbefugnis engt mich ebenso ein wie der Halsring, den du froh bist, los zu sein.«
Warren runzelte die Stirn. »Wie meint Ihr das?«
Sie strich sich die braunen Locken aus dem Gesicht. »Warren, die Prälatin ist eine Gefangene ihrer Machtbefugnis. Hast du Prälatin Annalina oft gesehen? Nein. Und warum nicht? Weil sie in ihrem Büro saß und die Verwaltung des Palastes überwachte. Es gab tausend Dinge, um die sie sich hat kümmern müssen, Tausende von Fragen, die ihrer Aufmerksamkeit bedurften, Hunderte von jungen Männern und Schwestern, die betreut werden mußten, darunter auch das ewige Dilemma Nathan. Du hast ja keine Vorstellung, wieviel Ärger dieser Mann bereitet hat. Man mußte ihn unter ständiger Bewachung halten.
Die Prälatin kann auch nicht einfach mal vorbeischauen, um eine Schwester oder einen jungen Mann während seiner Ausbildung zu besuchen. Jeder würde sofort in Panik verfallen und sich fragen, was er oder sie falsch gemacht hätte, was man der Prälatin über sie berichtet hätte. Mit einer Prälatin spricht man niemals über etwas Beiläufiges, stets glaubt man, sie würde nach Verborgenem suchen. Nicht etwa, weil sie das will — es ist einfach so, daß niemand über die Macht ihrer Stellung hinwegsehen kann.
Wagt sie sich einmal aus ihren Zimmern heraus, ist sie augenblicklich eine Gefangene der Zeremonien ihres Amtes. Wenn sie in den Speisesaal geht, um zu Abend zu essen, wagt niemand, sein Gespräch fortzusetzen. Alles sitzt stumm da, beobachtet sie und hofft, nicht von ihr angesehen, oder schlimmer noch, gebeten zu werden, ihr Gesellschaft zu leisten.«
Warren sackte ein wenig in sich zusammen. »So habe ich das noch nie betrachtet.«
»Wenn deine Vermutungen über die Schwestern der Finsternis stimmen, und ich sage nicht, daß es so ist, dann würde mich meine Stellung als Prälatin daran hindern, herauszufinden, wer sie sind.«
»Prälatin Annalina hat es nicht daran gehindert.«
»Weißt du das? Wäre sie nicht Prälatin gewesen, hätte sie diese fehlgeleiteten Schwestern vielleicht schon vor langer Zeit aufgespürt, als sie noch etwas gegen sie hätte unternehmen können. Vielleicht hätte sie sie ausrotten können, bevor sie damit anfingen, unsere jungen Burschen umzubringen, ihnen ihr Han zu stehlen und mächtig zu werden. So, wie die Dinge liegen, kam ihre Entdeckung zu spät und hat zu nichts weiter als ihrem Tod geführt.«
»Aber vielleicht fürchten sie Euer Wissen und geben sich auf irgendeine Weise zu erkennen.«
»Wenn es Schwestern der Finsternis im Palast gibt, dann wissen sie um meine Beteiligung an der Entdeckung der sechs Geflohenen. Und wenn überhaupt, dann werden sie es gerne sehen, daß man mich zur Prälatin gemacht hat, weil mir dadurch die Hände gebunden sind und ich ihnen nicht in die Quere kommen kann.«
Warren legte einen Finger an seine Lippen. »Aber es muß doch etwas nützen, daß Ihr Prälatin geworden seid.«
»Es wird mich nur hindern, die Schwestern der Finsternis aufzuhalten. Du mußt mir helfen, Warren. Du kennst die Bücher. Es muß doch etwas geben, daß mich aus dieser Lage befreit.«
»Prälatin —«
»Nenn mich nicht so!«
Warren wand sich verzweifelt. »Aber das ist es, was Ihr seid. Ich kann Euch mit keinem geringeren Titel ansprechen.«
Sie seufzte. »Die Prälatin, Prälatin Annalina, bat ihre Freunde, sie mit Ann anzusprechen. Wenn ich jetzt Prälatin bin, dann bitte ich dich, mich mit Verna anzusprechen.«
Warren legte die Stirn in Falten und dachte darüber nach. »Nun … ich glaube, wir sind Freunde.«
»Wir sind mehr als Freunde, Warren. Du bist der einzige, dem ich vertrauen kann. Zur Zeit habe ich niemand anderes.«
Er nickte. »Gut, dann also Verna.« Er verzog den Mund und überlegte. »Verna, Ihr habt recht: Ich kenne die Bücher. Ich kenne die Anforderungen, und Ihr erfüllt sie alle. Ihr seid jung für eine Prälatin, aber nur, weil es so etwas noch nie gegeben hat. Im Gesetz gibt es keine Bestimmungen bezüglich des Alters. Mehr noch, ihr besitzt das Han dreier Schwestern. Es gibt keine Schwester, jedenfalls keine Schwester des Lichts, die Euch ebenbürtig wäre. Das allein beweist Eure Eignung mehr als genug. Die Kraft, die Beherrschung des Han, ist eine wesentliche Überlegung bei der Entscheidung, wer Prälatin wird.«
»Es muß doch irgend etwas geben, Warren. Denk nach.«
In seinen blauen Augen spiegelte sich Wissen und Bedauern wider. »Ich kenne die Bücher, Verna. Sie drücken sich sehr klar aus. Ist die Prälatin einmal formal ernannt, wird ihr dort ausdrücklich untersagt, sich ihrer Pflicht zu entziehen. Erst im Tod darf sie die Berufung abtreten. Solange Prälatin Annalina nicht wieder zum Leben erwacht und Ihre Stellung zurückverlangt, sehe ich kaum eine Möglichkeit, wie Ihr zurücktreten könnt. Ihr seid Prälatin.«
Auch Verna wußte keine Lösung. Sie saß in der Falle. »So lange ich denken kann, hat diese Frau mein Leben verdreht. Sie hat diesen Bann auf mich abgestimmt, ich weiß, daß sie es war. Sie hat mich in diese Falle gelockt. Ich wünschte, ich könnte sie erwürgen!«
Warren legte ihr sachte eine Hand auf den Arm. »Verna, würdet Ihr jemals zulassen, daß eine Schwester der Finsternis Prälatin wird?«