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»Natürlich nicht.«

»Glaubt Ihr, Ann würde das?«

»Nein, aber ich verstehe nicht —«

»Verna, Ihr habt gesagt, Ihr könntet niemandem außer mir vertrauen. Denkt an Ann. Sie war in der gleichen Klemme. Sie durfte nicht zulassen, daß durch einen Zufall eine von ihnen Prälatin wird. Sie lag im Sterben. Und so tat sie das einzig Mögliche. Sie konnte niemandem vertrauen außer Euch.«

Verna starrte ihm in die Augen, während seine Worte in ihrem Kopf nachhallten. Dann ließ sie sich auf einen glatten, dunklen Stein am Wasser fallen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Geliebter Schöpfer«, sagte sie leise, »bin ich wirklich so selbstsüchtig?«

Warren setzte sich neben sie. »Selbstsüchtig? Dickköpfig, manchmal, aber nie selbstsüchtig.«

»Ach, Warren, sie muß manchmal so alleine gewesen sein. Wenigstens war Nathan bei ihr … am Ende.«

Warren nickte. Nach einer Weile blickte er sie an. »Wir stecken richtig in Schwierigkeiten, nicht wahr, Verna.«

»In einem ganzen Palast voller Schwierigkeiten, Warren. Säuberlich zusammengehalten von einem Ring aus Gold.«

7

Richard hielt sich die Hand vor den Mund und gähnte. Weder in der vergangenen Nacht noch, was das anbetraf, in den letzten beiden Wochen hatte er viel Schlaf gefunden, von seinem Kampf mit den Mriswith ganz zu schweigen. Er war so müde, daß es ihm schwerfiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alle paar Schritte wechselten faulige Gerüche mit wohlduftenden ab, während er immer weiter in den Irrgarten aus verschlungenen Straßen eindrang, nahe an den Gebäuden blieb, das dichteste Gedränge mied und sich alle Mühe gab, der Richtung zu folgen, die ihm Fräulein Sanderholt beschrieben hatte. Hoffentlich hatte er sich nicht verirrt.

Stets zu wissen, wo er sich befand, und wie er an sein Ziel gelangen konnte, war für einen Führer Ehrensache, da Richard aber Waldführer gewesen war, mochte man es ihm verzeihen, wenn er sich in einer großen Stadt verlief. Außerdem war er kein Waldführer mehr und nahm auch nicht an, jemals wieder einer zu werden.

Aber er wußte, wo die Sonne stand, und wie verwirrend sich die Straßen und Gebäude auch gestalteten, mit ihren von Menschen wimmelnden Durchgangsstraßen, den dunklen Hinterhöfen und den Labyrinthen enger, sich windender Seitenstraßen zwischen uralten, fensterlosen, vollkommen planlos angelegten Häusern, Südosten blieb Südosten. Statt Königsbäumen oder Erhebungen im Gelände benutzte er einfach die größeren Gebäude als Markierungspunkte.

Richard schlängelte sich durch die Menschenmenge, vorbei an schäbig gekleideten Straßenhändlern mit Töpfen voller getrockneter Wurzeln, Körben mit Tauben, Fischen und Aalen, Köhlern, die, ihre Karren schiebend, in einem Singsang ihre Ware feilboten, vorbei an Käsehändlern in steifer, rotgelber Livree, Metzgerläden, in denen Schweine, Schafe und Wild aufgereiht an Haken hingen, Salzverkäufern, die Salz verschiedener Qualität und Beschaffenheit anboten, Ladeninhabern, die Brote, Pasteten und Gebäck, Geflügel, Gewürze, Säcke mit Getreide, Fässer mit Wein und Bier und hundert andere Dinge verkauften, die in Schaufenstern oder auf Tischen vor den Läden ausgebreitet lagen, vorbei an Leuten, die die Waren begutachteten, ein Schwätzchen hielten und sich über die Preise beklagten. Und dann bemerkte er das Flattern in seiner Magengrube, eine Warnung — jemand verfolgte ihn.

Plötzlich hellwach, bog er ab und blickte in ein Gedränge aus Gesichtern, erkannte aber keines wieder. Er hielt sein schwarzes Cape über sein Schwert, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wenigstens schienen die allgegenwärtigen Soldaten sich nicht für ihn zu interessieren, auch wenn einige der D’Haraner, wenn er nahebei an ihnen vorüberging, den Kopf hoben, so als spürten sie etwas, wüßten aber nicht recht, woher es kam. Richard beschleunigte seine Schritte.

Das Flattern war so schwach, daß er dachte, seine Verfolger wären vielleicht noch so entfernt, daß sie ihn nicht gesehen hatten. Doch wie sollte er dann wissen, wer es war? Es konnte jedes der Gesichter sein, in die er sah. Er blickte zu den Dächern hoch, aber den einen, der ihn, wie er wußte, verfolgte, entdeckte er nicht. Statt dessen sah er nach dem Stand der Sonne, um nicht die Orientierung zu verlieren.

An einem Eckhaus blieb er stehen, beobachtete die Menschen, die die Straße hinauf- und hinunterströmten, und hielt Ausschau nach jemandem, der ihn beobachtete, der fehl am Platze wirkte oder ungewöhnlich, doch fiel ihm nichts Beunruhigendes auf.

»Einen Honigkuchen, edler Herr?«

Richard drehte sich zu einem kleinen Mädchen in einer zu großen Jacke um, das hinter einem wackeligen, kleinen Tisch stand. Er hielt sie für zehn oder zwölf, allerdings war er im Schätzen des Alters junger Mädchen nicht gut. »Wie bitte?«

Ihre Hand bot mit ausladender Geste die Waren auf dem Tisch an. »Einen Honigkuchen? Meine Großmutter macht sie selbst. Sie sind wirklich gut, das kann ich Euch versprechen, und kosten nur einen Penny. Möchtet Ihr einen kaufen, edler Herr, bitte? Ihr werdet es nicht bereuen.«

Auf dem Boden hinter dem Mädchen hockte auf einem Brett im Schnee eine stämmige, alte, in eine zerrissene, braune Decke gehüllte Frau. Grinsend sah sie zu ihm auf. Richard erwiderte das Lächeln halbherzig, horchte auf das Flattern in seinem Inneren und versuchte festzustellen, was er da spürte, welcher Art das düstere Vorzeichen war. Das Mädchen und die Alte lächelten hoffnungsvoll und warteten.

Richard blickte die Straße entlang und seufzte. Sein Atem hing wie eine kleine Dampfwolke in der Luft, bis der leichte Wind sie verwehte. Er kramte in seiner Tasche. Während seiner zwei Wochen langen Reise nach Aydindril hatte er herzlich wenig zu essen bekommen. Alles, was er besaß, war das Silber und Gold aus dem Palast der Propheten. Auch in seinem Rucksack im Palast der Konfessoren befand sich wahrscheinlich kein einziger Penny.

»Ich bin kein Herr«, sagte er und stopfte alles bis auf eine Silbermünze zurück in die Tasche.

Das Mädchen zeigte auf sein Schwert. »Jeder, der ein so feines Schwert besitzt, muß doch gewiß ein Herr sein.«

Die Alte hatte aufgehört zu lächeln. Die Augen auf das Schwert geheftet, rappelte sie sich auf.

Richard warf rasch sein Cape über das in Silber und Gold gearbeitete Heft und gab dem Mädchen die Münze. Sie betrachtete sie in ihrer Handfläche.

»Ich habe nicht genug Kleingeld, um darauf rauszugeben. Du meine Güte, ich weiß nicht mal, wieviel Kleingeld man dazu braucht. Ich habe noch nie eine Silbermünze in der Hand gehabt, Herr.«

»Ich hab’ dir doch gesagt, ich bin kein Herr.« Er lächelte, als sie aufsah. »Ich heiße Richard. Ich sag’ dir was, warum behältst du die Münze nicht einfach und betrachtest sie als Vorauszahlung, und jedesmal, wenn ich vorbeikomme, nun, dann gibst du mir noch einen von deinen Honigkuchen, bis das Silber aufgebraucht ist.«

»Oh, edler Herr … ich meine, Richard, vielen Dank.«

Das Mädchen gab die Münze strahlend seiner Großmutter. Die alte Frau untersuchte die Münze skeptisch und drehte sie zwischen den Fingern. »Eine solche Prägung habe ich noch nie gesehen. Ihr müßt von sehr weit her gekommen sein.«

Die Frau konnte unmöglich wissen, woher die Münze stammte — die Alte und die Neue Welt waren in den letzten dreitausend Jahren voneinander getrennt gewesen. »Das stimmt. Aber das Silber ist echt.«

Sie sah ihn mit blaßblauen Augen an, aus denen die Jahre alle Farbe herausgewaschen zu haben schienen. »Gestohlen oder geschenkt, mein Herr?« Als Richard die Stirn in Falten legte, machte sie eine Handbewegung. »Das Schwert, das Ihr dort habt, mein Herr. Habt Ihr es gestohlen oder wurde es Euch geschenkt?«

Richard sah ihr in die Augen und endlich verstand er. Eigentlich wurde der Sucher von einem Zauberer ernannt, da Zedd jedoch vor vielen Jahren aus den Midlands geflohen war, war das Schwert zur Beute derer geworden, die es sich leisten konnten, oder die in der Lage waren, es zu stehlen. Das Schwert der Wahrheit war durch selbsternannte Sucher in Verruf geraten, denen man besser nicht über den Weg traute. Sie hatten die Magie des Schwertes für ihre eigenen Zwecke eingesetzt und im Sinne jener, die der Klinge ihre Magie verliehen hatten. Seit Jahrzehnten war Richard der erste, der von einem Zauberer zum Sucher der Wahrheit ernannt worden war. Richard verstand die Magie, ihre fürchterliche Kraft und Verantwortung. Er war der wahre Sucher.