Die beiden riesigen D’Haraner setzten Richard sachte ab. Als seine Füße den Boden berührten, fand seine Hand das Heft seines Schwertes. Die beiden Soldaten stellten sich breitbeinig auf und verschränkten die Hände hinter dem Rücken. Aus dem im Schatten liegenden Ende des Durchgangs kamen die vier in lange Umhänge gehüllten Gestalten auf ihn zu.
Richard entschied, daß Flucht einem Kampf vorzuziehen sei, zog nicht sein Schwert, sondern warf sich zur Seite. Er rollte durch den Schnee und kam wieder auf die Füße. Mit dem Rücken schlug er krachend gegen eine kalte Ziegelmauer. Keuchend hüllte er sich in sein Mriswithcape. Einen Herzschlag später wechselte das Cape die Farbe, paßte sich der Mauer an, und er war verschwunden.
Es wäre ein leichtes gewesen, sich fortzuschleichen, solange das Cape ihn verbarg. Besser fliehen als kämpfen. Sobald er wieder bei Atem war.
Die vier marschierten vorwärts. Als sie ins Licht traten, blähten sich ihre dunklen Capes auf. Dunkelbraunes Leder in der gleichen Farbe wie die d’Haranischen Uniformen verhüllte ihre wohlgeformten Körper vom Fuß bis zum Hals. Ein gelber Stern zwischen den Hörnern eines Halbmondes schmückte die Vorderseite des Lederanzuges jeder Frau.
Als Richard diesen Stern mit dem Halbmond erkannte, schoß es ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Häufiger als er zählen konnte, hatte man sein Gesicht, von seinem eigenen Blut verschmiert, gegen dieses Emblem gepreßt. Reflexartig erstarrte er, zog nicht sein Schwert, vergaß sogar zu atmen. Einen von panischer Angst erfüllten Augenblick lang sah er nur dieses Symbol, daß er nur zu gut kannte.
Mord-Sith.
Die Frau an der Spitze schob ihre Kapuze zurück, und ließ ihr langes blondes, zu einem dicken Zopf geflochtenes Haar herunterfallen. Mit ihren blauen Augen suchte sie die Mauer ab, dort wo er stand.
»Lord Rahl? Lord Rahl, wo …?«
Richard blinzelte fassungslos. »Cara?«
Er war gerade dabei, das Cape wieder schwarz werden zu lassen, damit er gesehen werden konnte, als der Himmel einstürzte.
Unter Brüllen und Flügelklatschen, mit blitzenden Reißzähnen, stieß Gratch zur Erde herab. Die beiden Männer hatten ihre Schwerter fast augenblicklich gezogen, aber so schnell wie die Mord-Siths waren sie nicht. Als die Männer ihre Klingen aus den Scheiden hatten, hielten die Frauen ihre Strafer bereits in den Fäusten. Ein Strafer schien zwar nichts weiter zu sein als ein dünner, roter Lederstab, Richard aber kannte sie als Waffen von furchteinflößender Macht. Schließlich war er mit einem Strafer ›ausgebildet‹ worden.
Richard warf sich auf den Gar, schob ihn zur gegenüberliegenden Wand, bevor die zwei Männer und vier Frauen ihn erreichen konnten. In seinem Bestreben, sich der Bedrohung entgegenzuwerfen, drängte Gratch ihn zur Seite.
»Halt! Ihr alle, haltet ein!« Die sechs Menschen und der eine Gar erstarrten, als sie seinen Ruf hörten. Richard wußte nicht, wer den Kampf gewinnen würde, hatte aber nicht die Absicht, es herauszufinden. Er nahm die Chance wahr, die sich ihm bot, bevor sie womöglich wieder aufeinander losgingen, und sprang vor Gratch. Dem Gar den Rücken zugewandt, breitete er die Hände nach beiden Seiten aus. »Gratch ist mein Freund. Er will mich nur beschützen. Bleibt wo Ihr seid, und er wird Euch nichts tun.«
Gratch schlang Richard seinen pelzigen Arm um den Leib und zog ihn an die straffe, rosige Haut auf seiner Brust und seinem Bauch. Der Durchgang hallte von einem Brüllen wider, das einerseits liebevoll war, gleichzeitig ein bedrohliches Grollen für die anderen enthielt.
»Lord Rahl«, sagte Cara mit leiser Stimme, während die beiden Männer ihre Schwerter in die Scheiden zurückschoben, »auch wir sind hier, um Euch zu beschützen.«
Richard schob Gratchs Arm fort. »Schon gut, Gratch. Ich kenne sie. Du hast deine Sache gut gemacht, genau wie ich dich gebeten habe, aber jetzt ist es in Ordnung. Beruhige dich.«
Gratch knurrte. Richard wußte, es war ein Laut der Zufriedenheit. Er hatte Gratch gesagt, er sollte ihm folgen, entweder hoch droben in der Luft oder von Dach zu Dach, sich aber nicht blicken lassen, es sei denn, es gäbe Ärger. Gratch hatte in der Tat gute Arbeit geleistet — Richard hatte keine Spur von ihm gesehen, bis er sich auf sie gestürzt hatte.
»Cara, was tut Ihr hier?«
Cara berührte ihn ehrfurchtsvoll am Arm und versicherte sich, ob er aus Fleisch und Blut war. Sie stieß ihm mit dem Finger gegen die Schulter und fing plötzlich an zu grinsen.
»Nicht einmal Darken Rahl persönlich konnte sich unsichtbar machen. Er konnte wilde Tiere befehligen, aber unsichtbar machen konnte er sich nicht.«
»Ich befehlige Gratch nicht, er ist mein Freund. Außerdem werde ich eigentlich auch nicht … Cara, was tut Ihr eigentlich hier?«
Die Frage schien sie zu überraschen. »Ich beschütze Euch.«
Richard zeigte auf die beiden Männer. »Und diese beiden? Sie haben gesagt, sie wollten mich töten.«
Die beiden Männer standen angewurzelt da wie eine Zwillingseiche. »Lord Rahl«, sagte einer, »eher würden wir sterben als zulassen, daß Euch ein Unheil widerfährt.«
»Wir hatten Euch fast eingeholt, da seid Ihr in diese bunte Reitertruppe hineingelaufen«, sagte Cara. »Ich gab Egan und Ulic den Auftrag, Euch dort ohne Kampf rauszuholen, sonst hättet Ihr verletzt werden können. Wären diese Männer auf die Idee gekommen, daß wir Euch befreien wollen, sie hätten vielleicht versucht, Euch zu töten. Wir wollten Euer Leben nicht aufs Spiel setzen.«
Richard betrachtete die beiden riesenhaften, blonden Männer.
Die dunklen Ledergurte und Koppel ihrer Uniformen waren so geformt, daß sie sich wie eine zweite Haut über ihre Muskeln legten. Mitten auf ihrer Brust war ein reich verziertes ›R‹ ins Leder geritzt und darunter zwei gekreuzte Schwerter. Einer von ihnen, Richard war nicht sicher, ob Egan oder Ulic, bestätigte Caras Worte. Cara und die anderen Mord-Siths hatten in D’Hara geholfen und es ihm damit ermöglicht, Darken Rahl zu besiegen, daher war er geneigt, ihr zu glauben.
Richard hatte ihre Entscheidung nicht vorhersehen können, als er die Mord-Siths befreite. Doch sie hatten beschlossen, seine Wächterinnen zu werden und nahmen diese Pflicht nun mit großer Leidenschaft wahr. Und davon ließen sie sich durch nichts abbringen.
Eine der anderen Frauen rief warnend Caras Namen und deutete mit dem Kopf zur Straße hin. Ein paar Vorübergehende waren stehengeblieben. Ein drohender Blick der beiden Männer, die sich umgedreht hatten, machte den Passanten Beine.
Cara packte Richard am Arm oberhalb des Ellenbogens. »Hier ist es nicht sicher — noch nicht. Kommt mit uns — Lord Rahl.«
Ohne eine Antwort oder sein Einverständnis abzuwarten zog sie ihn in den Schatten im hinteren Teil des Durchgangs. Richard beruhigte Gratch mit einer stummen Geste. Cara hob den unteren Teil eines losen Fensterladens an und schob Richard vor sich her durch die Öffnung. Das Fenster, durch das sie hereinkamen, war das einzige in einem Raum, der mit einem staubigen Tisch, auf dem drei Kerzen standen, mehreren Bänken und einem Stuhl ausgestattet war. Seitlich lag ein Haufen mit ihrem Gepäck.
Gratch gelang es, die Flügel zusammenzufalten und sich ebenfalls durch das Fenster hineinzuquetschen. Er blieb dicht bei Richard stehen und beobachtete stumm die anderen. Nachdem man ihnen gesagt hatte, er sei Richards Freund, bereitete der ungeschlachte Gar ihnen wiederum offensichtlich keine Sorgen mehr.
»Cara, was tut Ihr hier?«
Sie runzelte die Stirn, als sei er schwer von Begriff. »Ich sagte es doch schon, wir sind gekommen, Euch zu beschützen.« Ein schelmisches Lächeln umspielte ihren Mund. »Scheint, als wären wir gerade rechtzeitig gekommen. Der Meister Rahl muß sich der Aufgabe widmen, die Magie gegen die Magie zu sein, eine Aufgabe, für die Ihr Euch besser eignet als wir. Wir dagegen wollen der Stahl gegen den Stahl sein.« Sie deutete mit ausgestreckter Hand auf die drei anderen Frauen. »Im Palast hatten wir keine Zeit, uns vorzustellen. Das hier sind meine Schwestern des Strafers: Hally, Berdine und Raina.«
Richard betrachtete die drei Gesichter im flackernden Schein der Kerzen. Damals war er fürchterlich in Eile gewesen und konnte sich nur an Cara erinnern. Sie war es gewesen, die für sie gesprochen hatte. Er hatte ihr ein Messer an die Kehle gehalten, bis sie ihn davon überzeugt hatte, daß sie die Wahrheit sprach. Wie Cara war auch Hally blond, blauäugig und groß. Berdine und Raina waren ein wenig kleiner. Die blauäugige Berdine trug einen losen Zopf aus welligem, braunem Haar. Raina hatte dunkles Haar und Augen, die seine Seele auf jede Nuance von Kraft, Schwäche und Charakter zu prüfen schienen — ein charakteristisch stechender Blick, wie er nur einer Mord-Sith eigen war. Irgendwie schienen Rainas dunkle Augen dem durchdringenden Urteil noch mehr Schärfe zu verleihen.