10
Tobias Brogan strich mit den Knöcheln über seinen Schnäuzer und sah aus den Augenwinkeln nach Lunetta. Als sie mit einem kaum merklichen Nicken antwortete, verzog sich sein Mund zu einer säuerlichen Miene. Seine selten gute Laune war verflogen. Der Mann sagte die Wahrheit, bei so etwas unterliefen Lunetta keine Fehler, und doch wußte Brogan, daß es nicht die Wahrheit war. Er wußte es besser.
Er richtete seinen Blick wieder auf den vor ihm stehenden Mann auf der anderen Seite eines Tisches, der lang genug für ein Bankett von siebzig Personen gewesen wäre, und zwang ein höfliches Lächeln auf seine Lippen.
»Danke. Ihr wart eine große Hilfe.«
Der Mann betrachtete die Soldaten in den blankpolierten Uniformen rechts und links von ihm argwöhnisch. »Das ist alles, was Ihr wissen wollt? Ihr habt mich den weiten Weg hierherbringen lassen, nur um mich zu fragen, was jeder weiß? Ich hätte es Euren Leuten sagen können, hätten sie mich gefragt.«
Brogan zwang sich, weiter zu lächeln. »Nehmt meine Entschuldigung für diese Unannehmlichkeit. Ihr habt dem Schöpfer einen guten Dienst erwiesen, und mir auch.« Das Lächeln entglitt seiner Kontrolle. »Ihr könnt gehen.«
Der Mann hatte Brogans Blick wohl bemerkt. Eilig verbeugte er sich und eilte zur Tür.
Brogan tippte mit der Seite seines Daumens auf das Kästchen an seinem Gürtel und sah ungeduldig zu Lunetta hinüber. »Bist du sicher?«
Lunetta, ganz in ihrem Element, erwiderte den Blick gelassen. »Er spricht die Wahrheit, Lord General, genau wie zuvor die anderen.« Sie kannte sich aus in ihrem Gewerbe, so schmutzig es auch war, und wenn sie es ausübte, umgab sie eine Aura der Selbstsicherheit. Das ging ihm auf die Nerven.
Er schlug mit der Faust krachend auf den Tisch. »Es ist nicht die Wahrheit!«
Fast konnte er den Hüter in ihren sanften Augen sehen, wenn sie ihn anschaute. »Ich sage nicht, es wäre die Wahrheit, Lord General, nur, daß er das erzählt hat, was er für die Wahrheit hält.«
Tobias räusperte sich gewichtig. Er wußte nur zu gut, wie sehr dies stimmte. Er hatte nicht sein ganzes Leben damit verbracht, das Böse zu verfolgen, ohne dabei ein paar von dessen Tricks zu lernen. Er kannte sich aus mit Magie. Das Opfer war so nah, er konnte es fast wittern.
Die Sonne des späten Nachmittags fiel durch einen Spalt in den schweren goldenen Vorhängen, warf einen leuchtenden Lichtbalken auf ein vergoldetes Sesselbein, auf den reich verzierten, königsblau geblümten Teppich und auf die Ecke der langen, glänzenden Tischplatte. Man hatte das Mittagsmahl schon längst auf einen ungewissen, späteren Zeitpunkt verschoben, und doch war Tobias immer noch nicht weiter als am Anfang. Die Enttäuschung darüber zehrte an ihm.
Gewöhnlich brachte Galtero mit großem Geschick Zeugen heran, die wirklich etwas wußten, doch bislang hatten sich seine Leute als nutzlos erwiesen. Er fragte sich, was Galtero herausgefunden hatte. Irgend etwas löste große Unruhe in der Stadt aus, und Tobias Brogan mochte es nicht, wenn die Menschen in Aufruhr waren, es sei denn, er und seine Leute waren der Grund dafür. Unruhe konnte eine mächtige Waffe sein, doch er mochte keine Unbekannten. Gewiß war Galtero längst zurück.
Tobias lehnte sich in seinem mit diamantbesetzten Quasten versehenen Ledersessel zurück und richtete das Wort an einen der Soldaten im scharlachroten Cape, die die Tür bewachten. »Ettore, ist Galtero schon zurück?«
»Nein, Lord General.«
Ettore war jung und konnte es kaum erwarten, sich einen Namen im Kampf gegen das Böse zu machen, und er war ein tüchtiger Mann: gescheit, ergeben und ohne Angst vor Unbarmherzigkeit, wenn er es mit den Günstlingen des Hüters zu tun bekam. Irgendwann würde er zu den besten Jägern der Verderbten gehören. Tobias strich sich mit den Knöcheln über seinen schmerzenden Rücken. »Wie viele Zeugen haben wir noch?«
»Zwei, Lord General.«
Er machte eine ungeduldige Geste. »Also, schafft den nächsten rein.«
Während Ettore durch die Tür hinausschlüpfte, blinzelte Tobias an dem Balken aus Sonnenlicht vorbei zu seiner Schwester, die an der Wand lehnte. »Du warst dir doch sicher, Lunetta, oder?«
Sie starrte ihn an und raffte ihre zerfetzten Lumpen um sich. »Ja, Lord General.«
Er seufzte, als die Tür aufging und der Posten eine dürre Frau hereinführte, die keinen besonders glücklichen Eindruck machte. Tobias setzte sein höflichstes Lächeln auf. Ein weiser Jäger gewährte seinem Opfer keinen flüchtigen Blick auf seine Reißzähne.
Die Frau befreite ihren Ellenbogen mit einem Ruck aus Ettores Griff. »Was soll das alles? Man hat mich gegen meinen Willen mitgenommen und den ganzen Tag in ein Zimmer gesperrt. Welches Recht habt Ihr, jemanden gegen seinen Willen mitzunehmen!«
Tobias setzte ein reumütiges Lächeln auf. »Da muß wohl ein Mißverständnis vorliegen. Tut mir leid. Seht Ihr, wir wollen nur gewissen Leuten, die wir für verläßlich halten, einige Fragen stellen. Tja, die meisten Menschen auf der Straße kennen nicht mal den Unterschied zwischen oben und unten. Ihr scheint eine intelligente Frau zu sein, das ist alles, und —«
Sie beugte sich über den Tisch zu ihm. »Und deshalb habt Ihr mich eingesperrt? Das ist es, was der Lebensborn mit Menschen macht, die er für verläßlich hält? Nach dem, was ich gehört habe, macht sich der Lebensborn nicht die Mühe, Fragen zu stellen, ihm genügt ein bloßes Gerücht — Hauptsache, das Ergebnis ist ein frisches Grab.«
Brogan spürte ein Zucken in seiner Wange, lächelte jedoch unbeirrt. »Da habt Ihr etwas Falsches gehört, meine Dame. Der Lebensborn ist ausschließlich an der Wahrheit interessiert. Wir dienen dem Schöpfer und seinem Willen nicht weniger als eine Frau von Eurem Charakter. Hättet Ihr nun etwas dagegen einzuwenden, ein paar Fragen zu beantworten? Anschließend werden wir Euch sicher nach Hause bringen.«
»Bringt mich jetzt sofort nach Hause. Dies ist eine freie Stadt. Kein Palast hat das Recht, harmlose Bürger zu verschleppen, um sie zu verhören. Nicht in Aydindril. Ich bin nicht verpflichtet, Eure Fragen zu beantworten.«
Brogan setzte ein noch breiteres Lächeln auf und zwang sich zu einem kleinen Achselzucken. »Ganz recht, Madame. Wir haben nicht das geringste Recht dazu, und ich hatte auch nicht die Absicht, diesen Eindruck zu erwecken. Wir bemühen uns nur um die Hilfe ehrlicher, bescheidener Menschen. Wenn Ihr uns nur helfen wolltet, einigen einfachen Dingen auf den Grund zu gehen, dann könntet ihr Eures Weges gehen, und wir wären euch von ganzem Herzen dankbar.«
Einen Augenblick lang zog sie eine finstere Miene, dann rückte sie das Wolltuch über ihrer Schulter zurecht. »Also schön, fangt an, wenn ich dadurch wieder nach Hause komme. Was wollt Ihr wissen?«
Tobias setzte sich in seinem Sessel um, tarnte damit einen knappen Blick hinüber zu Lunetta, um sich zu vergewissern, ob sie achtgab. »Seht Ihr, meine Dame, seit dem vergangenen Frühjahr leiden die Midlands unter dem Krieg, und nun wollen wir herausfinden, ob die Günstlinge des Hüters bei dem Zwist, der seine Schatten auf die Länder wirft, ihre Hände im Spiel haben. Haben irgendwelche Ratsmitglieder Reden gegen den Schöpfer geführt?«
»Sie sind tot.«
»Ja, das habe ich gehört. Der Lebensborn hält jedoch nicht viel von Gerüchten. Wir brauchen handfeste Beweise, wie zum Beispiel die Aussage eines Zeugen.«
»Ich habe ihre Leichen gestern abend in den Ratssälen gesehen.«
»Tatsächlich? Nun, das ist allerdings ein Beweis. Endlich erfahren wir die Wahrheit von einer ehrenhaften Person, die Zeuge war. Seht Ihr, bereits jetzt seid Ihr uns eine Hilfe. Wer hat sie getötet?«
»Ich habe nicht gesehen, wie sie getötet wurden.«
»Habt Ihr je gehört, daß ein Ratsmitglied gegen den Frieden des Schöpfers gepredigt hat?«
»Sie sind über den Frieden des Midlandbundes hergezogen, und soweit es mich betrifft, ist das dasselbe, auch wenn sie es nicht ausdrücklich gesagt haben. Sie wollten den Eindruck erwecken, als sei Schwarz Weiß und Weiß Schwarz.«
Tobias zog die Augenbrauen hoch und versuchte, interessiert zu wirken. »Die, die dem Hüter dienen, bedienen sich solcher Taktiken: indem sie einen glauben machen, daß es recht sei, Böses zu tun.« Er hob die Hand zu einer unbestimmten Geste. »Wollte ein bestimmtes Land den Frieden des Bundes brechen?«