Galtero beugte sich näher. »Als ich vorhin draußen war, bevor all dieser Singsang losging, und die Soldaten draußen vor der Stadt noch gesprächig waren, rieten sie mir, auf der Hut zu sein. Es habe Angriffe unsichtbarer Geschöpfe gegeben, und eine Anzahl ihrer Soldaten und auch Bürger der Stadt seien zu Tode gekommen.«
Tobias erinnerte sich, daß die Alte ihm erzählt hatte, die schuppigen Kreaturen — er wußte nicht mehr, wie sie sie genannt hatte — seien aus dem Nichts gekommen und hätten jedem die Gedärme aus dem Leib gerissen, der ihnen im Weg stand. Lunetta hatte behauptet, die Frau habe die Wahrheit gesprochen. Das mußten also diese Kreaturen sein.
»Wie praktisch, daß Lord Rahl genau im richtigen Augenblick eintrifft, um die Kreaturen zu erschlagen und die Stadt zu retten.«
»Mriswiths«, sagte Lunetta.
»Was?«
»Die Frau meinte, die Kreaturen würden Mriswiths genannt.«
Tobias nickte. »Ja, ich glaube du hast recht: Mriswiths.«
Weiße Säulen ragten draußen vor dem Palasteingang in die Höhe. Das Heer der Soldaten zu beiden Seiten schleuste sie durch weiße, mit Schnitzereien verzierte, weit offenstehende Türen hinein in eine prachtvolle Eingangshalle, die durch Fenster aus blaßblauem Glas erhellt wurde. Diese waren zwischen polierten, weißen Marmorsäulen, die goldene Kapitelle krönten, eingelassen. Tobias Brogan hatte das Gefühl, in den Bauch des Bösen hineingesogen zu werden. Die anderen Gäste, hätte auch nur ein einziger von ihnen genug Verstand besessen, wären angesichts dieses Monuments der Gottlosigkeit erschaudert, und nicht wegen der toten Tierkadaver.
Nach einem langen Marsch durch elegante Korridore und Gemächer mit genügend Granit und Marmor, um daraus einen Berg zu errichten, kamen sie endlich durch eine hohe Mahagonitür und betraten einen riesigen Saal, über dem sich eine gewaltige Kuppel wölbte. Reiche Fresken von Männern und Frauen zierten die Decke.
Runde Fenster rings um den unteren Kuppelrand gewährten dem nachlassenden Licht Eintritt und gaben den Blick frei auf die Wolken, die sich am dämmernden Himmel zusammenbrauten. Die Sessel hinter dem prächtigen, mit Schnitzereien verzierten Tisch oben auf dem Podium, auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, waren leer.
Hinter mit Bögen überwölbten Durchbrüchen rings um den Saal führten Treppen hinauf zu den mit Säulengängen versehenen Balkonen, die von geschwungenen, polierten Mahagonigeländern eingefaßt wurden. Auf den Balkonen drängten sich ebenfalls Menschen — keine feingekleideten Edelleute wie im Saal selbst, bemerkte er, sondern gewöhnliches, arbeitendes Volk. Den anderen Gästen fiel dies ebenfalls auf, und sie warfen mißbilligende Blicke nach oben auf das Gesindel, das im Schatten hinter dem Geländer stand. Die Menschen dort oben hielten ein wenig Abstand zum Geländer, so als suchten sie die Anonymität der Dunkelheit, damit keiner von ihnen erkannt und zur Rechenschaft gezogen werden konnte, weil er es gewagt hatte, bei einem so großen festlichen Anlaß anwesend zu sein. Üblicherweise wurde ein großer Mann erst der Obrigkeit vorgestellt, bevor er sich dem gewöhnlichen Volk präsentierte.
Die Gäste unten ignorierten das Publikum auf den Balkonen und verteilten sich auf dem gemusterten Marmorboden. Dabei hielten sie Abstand zu den beiden Männern des Lebensborns und versuchten, es wie einen Zufall und nicht wie Absicht aussehen zu lassen, wenn sie ihnen aus dem Wege gingen. Erwartungsvoll blickten sie sich nach ihrem Gastgeber um, während sie tuschelnd die Köpfe zusammensteckten. Fast schienen sie in ihren eleganten Kleidern ein Teil der reichen Schnitzereien und Dekoration zu sein. Niemand ließ sich anmerken, daß ihm die Pracht des Palastes der Konfessoren gewaltigen Respekt einflößte. Tobias vermutete, daß die meisten häufige Besucher waren. Er war zwar nie zuvor in Aydindril gewesen, aber er wußte, wann er Speichellecker vor sich hatte. In der Umgebung seines Königs hatte es genug davon gegeben.
Lunetta blieb dicht an seiner Seite, die eindrucksvolle Architektur ringsum interessierte sie nur wenig. Von den Menschen, die sie anstarrten, nahm sie keinerlei Notiz, obwohl es inzwischen weniger geworden waren — die meisten waren jetzt eher an sich selbst und an der Aussicht, endlich Lord Rahl kennenzulernen, interessiert, als an dieser seltsamen Frau, die zwischen zwei Männern des Lebensborns in scharlachroten Capes stand. Galtero ließ den Blick im Raum schweifen, wobei er den Prunk übersah, und taxierte statt dessen ohne Unterlaß Menschen, Soldaten und Ausgänge. Die Schwerter, die er und Tobias trugen, dienten nicht der Zierde.
Bei aller Verachtung konnte Tobias nicht umhin, den Ort, an dem er stand, zu bewundern. Dies war der Ort, von dem aus die Mutter Konfessor und die Zauberer ihren Einfluß über die Midlands ausgeübt hatten. Dies war der Ort, an dem der Rat, über Jahrtausende hinweg, das Symbol der Einheit dargestellt und die Magie bewahrt und geschützt hatte. Von hier aus hatte der Hüter die Fäden gezogen.
Diese Einheit war jetzt zerschlagen. Die Magie hatte ihre Macht über die Menschen, ihre schützende Funktion, verloren. Das Zeitalter der Magie war vorbei. Die Midlands waren am Ende. Schon bald würde der Palast voller scharlachroter Capes sein, und auf dem Podium würden dann die Männer des Lebensborns sitzen. Tobias lächelte — die Geschehnisse bewegten sich unaufhaltsam auf ihr unausweichliches Ende zu.
Ein Mann und eine Frau schlenderten vorbei, mit Absicht, wie Tobias vermutete. Die Frau mit ihrem hochaufgetürmten schwarzen Haar und den feinen Locken rings um ihr buntbemaltes Gesicht beugte sich beiläufig zu ihm hinüber. »Stellt Euch vor, man lädt uns ein, und dann gibt es nicht einmal etwas zu essen.« Sie strich die Spitze am Busen ihres gelben Kleides glatt, und ein höfliches Lächeln kam ihr auf die unfaßbar roten Lippen, während sie auf eine Antwort wartete. Er erwiderte nichts, und sie fuhr fort. »Scheint sehr unfein, nicht einmal einen Tropfen Wein anzubieten, wenn man bedenkt, wie kurzfristig wir gekommen sind, findet Ihr nicht auch? Hoffentlich erwartet er nach dieser ungehobelten Behandlung nicht, daß wir seiner Einladung noch einmal Folge leisten.«
Tobias verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Ihr kennt Lord Rahl?«
»Vielleicht bin ich ihm schon mal begegnet, aber ich kann mich nicht erinnern.« Sie wischte ein für ihn nicht sichtbares Stäubchen von ihrer nackten Schulter und hielt ihm dabei ihre funkelnden Juwelen unter die Nase. »Ich bin zu so vielen Gesellschaften hier im Palast eingeladen, daß ich mir nicht all die Menschen merken kann, die mir vorgestellt werden. Schließlich ist es jetzt, nachdem Prinz Fyren ermordet wurde, doch sehr wahrscheinlich, daß Herzog Lumholtz und ich demnächst führende Positionen einnehmen.«
Sie schob die Lippen zu einem aufgesetzten Lächeln vor. »Vom Lebensborn ist mir jedoch mit Sicherheit hier noch nie jemand begegnet. Schließlich hat der Rat dem Lebensborn immer übertriebenen Eifer vorgeworfen. Nicht, daß ich damit sagen will, ich sei derselben Meinung, ganz und gar nicht, er hat ihm allerdings verboten, sein … ›Gewerbe‹ irgendwo außerhalb seines Heimatlandes auszuüben. Natürlich, zur Zeit hat es wohl den Anschein, als hätten wir keinen Rat. Wie gräßlich sie umgebracht wurden, genau hier, während sie sich über den zukünftigen Kurs der Midlands berieten. Was führt Euch hierher, Sir?«
Tobias blickte an ihr vorbei und sah, wie Soldaten die Türen schlossen. Er strich sich mit den Knöcheln über den Schnauzer und schlenderte in Richtung Podium los. »Ich wurde ›eingeladen‹, genau wie Ihr.«
Herzogin Lumholtz schloß sich ihm an. »Wie ich höre, hält die Imperiale Ordnung große Stücke auf den Lebensborn.«
Der Mann in ihrer Begleitung, der eine goldbesetzte blaue Jacke trug und große Autorität ausstrahlte, lauschte mit bemühter Gleichgültigkeit, während er vorgab, er sei mit seinen Gedanken ganz woanders. Von seinem dunklen Haar und seinen dichten Brauen her hatte Tobias bereits geschlossen, daß er Keltonier war. Die Keltonier hatten sich flugs nach der Imperialen Ordnung ausgerichtet und verteidigten eifersüchtig ihre hohe Stellung dort. Sie wußten auch, wieviel die Imperiale Ordnung von der Meinung des Lebensborns hielt.