Obwohl nicht so groß wie die beiden D’Haraner zu den Seiten des geschwungenen Tisches, war er dennoch ein kräftiger Mann, groß und muskulös und überraschend jung. Seine Kleidung, ein schwarzer Umhang und hohe Stiefel, eine dunkle Hose und ein schlichtes Hemd, war einfach, um so mehr für jemanden, der sich als ›Lord‹ bezeichnete. Auch wenn das Blinken einer silbernen und goldenen Scheide an seiner Hüfte kaum zu übersehen war, so schien er doch nichts weiter zu sein als ein Mann aus den Wäldern. Tobias fand, der Mann sah zudem müde aus, so als lastete ein Berg von Sorgen auf seinen Schultern.
Tobias war das Schlachtfeld nicht fremd, und so erkannte er allein an der eleganten Haltung dieses Mannes, an der Selbstverständlichkeit, mit der der Waffengurt über seiner Schulter lag und das Schwert an seiner Hüfte sich mit ihm zusammen bewegte, daß man diesen Mann nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte. Das Schwert hing nicht zur Zierde dort, es war eine Waffe. Der Kerl wirkte wie ein Mann, der in letzter Zeit eine große Zahl Entscheidungen aus Verzweiflung heraus gefällt und sie alle überlebt hatte. Trotz seines bescheidenen Äußeren hatte er eine unerklärliche Autorität an sich, und sein Auftreten gebot Aufmerksamkeit.
Schon hatten viele der Frauen die Haltung wiedergefunden und begannen ihm heimlich zuzulächeln, dabei zwinkerten sie und verfielen in die einstudierten Gewohnheiten, mit denen sie sich bei denen einschmeichelten, die Macht ausübten. Auch wenn der Mann nicht auf derbe Weise gut ausgesehen hätte, sie hätten dasselbe getan, wenn auch vielleicht mit weniger Ernst. Entweder bemerkte Lord Rahl ihr lüsternes Gebaren nicht, oder er hatte sich entschlossen, es zu ignorieren.
Doch was Brogan interessierte, waren seine Augen. Die Augen verrieten den Charakter eines Mannes, und von ihnen ließ er sich nur selten täuschen. Wenn der stählerne Blick dieses Mannes sich auf die Menschen richtete, wich manch einer zurück, ohne es zu merken, und andere wurden unruhig. Jetzt wandten sich diese Augen in Tobias’ Richtung, und der Blick fiel zum ersten Mal auf ihn.
Der kurze Blick war alles, was er brauchte: Lord Rahl war ein sehr gefährlicher Mann.
Zwar war er jung und fühlte sich in seiner Haut nicht wohl, weil er das Zentrum allen Interesses war, und doch war er nichtsdestotrotz ein Mann, der wie der Teufel kämpfen würde. Augen wie diese hatte Tobias schon einmal gesehen. Dieser Mann würde sich kopfüber von einer Klippe stürzen, um jemanden zu verfolgen, wenn es sein mußte.
»Ich kenne ihn«, raunte Galtero.
»Was? Woher?«
»Heute morgen, als ich Zeugen gesucht habe, bin ich diesem Mann begegnet. Ich wollte ihn zum Verhör zu Euch bringen, da sind diese beiden riesigen Wachen aufgetaucht und haben ihn fortgeschleppt.«
»Das ist schade. Es wäre sicherlich…«
Die plötzliche Stille im Saal ließ Tobias aufsehen. Lord Rahl starrte ihn an. Es war, als schaute man in die durchdringenden, grauen Augen eines Raubvogels.
Lord Rahls Blick wanderte weiter zu Lunetta. Sie erstarrte. Überraschenderweise huschte ein Lächeln über seine Lippen.
»Von allen Frauen auf dem Ball«, meinte Lord Rahl zu ihr, »ist dein Kleid das hübscheste.«
Lunetta strahlte. Tobias hätte fast laut aufgelacht. Lord Rahl hatte den anderen Anwesenden im Saal gerade auf einschneidende Weise klargemacht, daß ihr gesellschaftlicher Rang für ihn nichts zählte. Plötzlich fing Tobias an, sich zu amüsieren. Vielleicht wäre der Imperialen Ordnung mit einem Mann wie diesem unter ihren Führern gar nicht schlecht gedient.
»Die Imperiale Ordnung«, begann Lord Rahl, »glaubt, die Zeit sei gekommen, die Welt unter allgemein verbindlichen Regeln — den ihren — zu vereinen. Diese Leute sagen, Magie sei für jedes Versagen, für alles Unglück und sämtliche Sorgen der Menschen verantwortlich. Sie behaupten, alles Unheil ginge auf den äußeren Einfluß von Magie zurück. Sie sagen, die Zeit sei gekommen, daß die Magie aus der Welt verschwinde.«
Einige im Saal gaben ihm murmelnd recht, andere brummten skeptisch, doch die meisten blieben stumm.
Lord Rahl legte einen Arm über die Lehne des größten Sessels — desjenigen in der Mitte. »Damit ihre Vision sich erfüllt, und im Hinblick auf die von ihnen selbst verkündete göttliche Sache, wollen sie keinem einzigen Land seine Souveränität zugestehen. Sie wollen, daß sich alle ihrem Einfluß unterstellen und als ein Volk in die Zukunft schreiten: als Untertanen der Imperialen Ordnung.«
Er hielt einen Augenblick inne und blickte vielen unten im Saal in die Augen. »Magie ist keineswegs ein Quell des Bösen. Das ist lediglich eine Rechtfertigung für ihre Taten auf dem Weg zur Herrschaft.«
Ein Flüstern machte sich im Saal breit, und gemurmelte Debatten wurden lauter. Herzogin Lumholtz trat energisch vor und bat sich Aufmerksamkeit aus. Sie lächelte Lord Rahl zu, bevor sie den Kopf verneigte.
»Was Ihr da sagt, Lord Rahl, ist ja sehr interessant, aber der Lebensborn hier« — mit einer knappen Bewegung ihrer Hand deutete sie auf Tobias und funkelte ihn dabei eiskalt an — »sagt, alle Magie sei ein Auswurf des Hüters.«
Weder sagte Brogan etwas noch rührte er sich von der Stelle, Lord Rahl sah nicht in seine Richtung, sondern hielt statt dessen den Blick auf die Herzogin gerichtet.
»Ein Kind, das neu in diese Welt kommt, ist Magie. Wollt Ihr das als Unheil bezeichnen?«
Ein gebieterisches Heben ihrer Hand ließ die Menschenmenge in ihrem Rücken verstummen. »Der Lebensborn predigt, Magie sei vom Hüter selbst erschaffen und könne daher nur eine Verkörperung des Bösen sein.«
Zustimmende Rufe erschallten von verschiedenen Stellen unten im Saal und oben auf dem Balkon. Diesmal war es Lord Rahl, der die Hand hob und die Menge zum Schweigen brachte.
»Der Hüter ist der Zerstörer, der Verderber allen Lichts und Lebens, der Hauch des Todes. Wie ich erzählen hörte, ist es der Schöpfer mit seiner Macht und Erhabenheit, der alle Dinge ins Leben ruft.« Fast wie aus einem Mund schrie die Menge, dies sei wahr.
»Wenn das so ist«, sagte Lord Rahl, »dann ist der Glaube, daß Magie vom Hüter stammt, eine Gotteslästerung. Wäre der Hüter imstande, ein neugeborenes Kind zu schaffen? Dem Hüter die Fähigkeit zur Schöpfung zuzuschreiben, die allein das Reich des Schöpfers ist, hieße dem Hüter eine Reinheit zugestehen, die nur dem Schöpfer innewohnt. Der Hüter ist nicht zur Schöpfung fähig. An einem solch profanen Glauben festzuhalten, kann nur als Ketzerei bezeichnet werden.«
Stille senkte sich wie ein Leichentuch über den Saal. Lord Rahl legte den Kopf seitlich und sah die Herzogin an. »Seid Ihr deshalb vorgetreten, Mylady, weil Ihr Euch als Ketzerin offenbaren wollt? Oder einfach nur, um einen anderen zu Eurem persönlichen Vorteil der Ketzerei zu bezichtigen?«
Mit einem Gesicht, das ein weiteres Mal so rot wurde wie ihre zusammengepreßten Lippen, wich sie mehrere Schritte zurück und stellte sich wieder neben ihren Gatten. Der Herzog, dessen Gesicht nicht länger ruhig blieb, drohte Lord Rahl mit dem Finger.
»Eure verdrehten Worte werden nichts an der Tatsache ändern, daß die Imperiale Ordnung gegen das Unheil des Hüters kämpft und angetreten ist, um uns gegen ihn zu vereinen. Ihr Ziel ist lediglich das gemeinsame Wohl aller Völker. Magie verweigert der Menschheit dieses Recht. Ich bin Keltone und stolz darauf, aber es ist an der Zeit, diese Kleinstaaterei hinter uns zu lassen. Wir haben umfassende Gespräche mit der Imperialen Ordnung geführt, und sie als zivilisierte und ehrbare Menschen kennengelernt, deren Interesse es ist, alle Länder in Frieden zu vereinen.«
»Ein nobles Ideal«, antwortete Lord Rahl mit ruhiger Stimme, »das in der Einheit der Midlands bereits verwirklicht war, das Ihr jedoch aus Habsucht aufgegeben habt.«
»Die Imperiale Ordnung ist anders. Sie bietet wahre Stärke und echten, dauerhaften Frieden.«
Lord Rahl fixierte den Herzog mit einem wütend funkelnden Blick. »Auf Friedhöfen wird nur selten der Frieden gebrochen.« Er richtete sein wütendes Funkeln auf die Menschenmenge. »Es ist noch nicht lange her, als eine Armee der Imperialen Ordnung durch das Herz der Midlands fegte und danach trachtete, andere in ihren Schoß aufzunehmen. Viele schlossen sich ihnen an, was bewirkte, daß ihre Streitmacht immer größer wurde. Ein d’Haranischer General mit Namen Riggs führte sie an, zusammen mit Offizieren verschiedener Länder. Dabei unterstützte ihn ein Zauberer Slagle, von Keltonischem Geblüt.