Cara lehnte sich an den Tisch und wischte sich mit der Hand durchs Gesicht. »Wir wollen Euch nicht verlieren, Lord Rahl. Wir wollen nicht dahin zurück, wie es früher war.« Sie klang, als wäre sie den Tränen nahe. »Es gefällt uns, daß wir jetzt zum Beispiel einen Scherz machen oder lachen dürfen. Das durften wir früher nicht. Wir haben immer in der Angst gelebt, daß man uns schlagen oder Schlimmeres antun würde, sobald wir ein falsches Wort sagen. Jetzt, da wir etwas anderes kennengelernt haben, wollen wir das nicht mehr zurück. Aber so wird es kommen, wenn Ihr Euer Leben für die Midlands verschwendet.«
»Cara … Ihr alle … hört zu. Wenn ich es nicht tue, wird es am Ende auf das gleiche hinauslaufen. Begreift Ihr das nicht? Wenn ich die Länder nicht unter einer starken Herrschaft vereine, unter gerechter Führung und gerechten Gesetzen, dann wird die Imperiale Ordnung alles an sich reißen, ein Stück nach dem anderen. Wenn die Midlands unter ihren Schatten gefallen sind, dann wird sich dieser Schatten schleichend auch auf D’Hara ausweiten, und am Ende wird die ganze Welt in Finsternis versinken. Ich mache dies alles nicht, weil es mir Spaß bereitet, sondern weil ich eine Chance sehe, dieses Werk zu vollbringen. Wenn ich es nicht versuche, wird es keinen Ort mehr geben, an dem ich mich verstecken kann — sie werden mich finden und mich töten.
Ich will die Menschen nicht beherrschen, ich möchte nichts weiter als ein ruhiges Leben führen. Ich wünsche mir eine Familie und ein friedliches Leben.
Deswegen muß ich den Ländern der Midlands beweisen, daß wir stark sind und Günstlingswirtschaft und Gezänk bestrafen werden, daß wir nicht Länder in einem Bund sein werden, der nur dann zusammensteht, wenn es für den einzelnen vorteilhaft erscheint, sondern daß wir wirklich eins sind. Die Midlands müssen darauf vertrauen können, daß wir für das einstehen, was rechtens ist, damit sie sich in Sicherheit wissen, wenn sie sich uns anschließen. Sie sollen darauf vertrauen können, daß sie nicht alleine stehen, wenn sie für die Freiheit kämpfen wollen. Wir müssen eine starke Macht darstellen, auf die sie vertrauen können. So sehr vertrauen, daß sie sich uns anschließen.«
Eisige Stille legte sich über den Saal. Richard schloß die Augen und ließ den Kopf wieder an die Sessellehne sinken. Sie hielten ihn für verrückt. Es hatte keinen Sinn. Er würde ihnen einfach befehlen müssen, das Nötige zu tun, und aufhören, sich zu fragen, ob ihnen das paßte oder gar gefiel.
Schließlich ergriff Cara das Wort. »Lord Rahl.« Er öffnete die Augen und sah sie mit verschränkten Armen dastehen, einen grimmigen Ausdruck im Gesicht. »Ich werde Eurem Kind nicht die Windeln wechseln, es weder baden noch ein Bäuerchen machen lassen oder mit ihm herumalbern.«
Richard schloß die Augen und legte den Kopf zurück nach hinten an die Sessellehne und lachte leise in sich hinein. Er mußte an das eine Mal zu Hause denken, bevor all dies angefangen hatte, und die Hebamme völlig aufgelöst gekommen war, um Zedd zu holen. Elayne Seaton, eine junge Frau, kaum älter als Richard, bekam ihr erstes Kind, und es gab Komplikationen. Die Hebamme hatte mit gedämpfter Stimme gesprochen, Richard den Rücken zugedreht und sich zu Zedd hinübergebeugt.
Bevor Richard erfuhr, daß Zedd sein Großvater war, kannte er ihn nur als seinen besten Freund. Damals hatte Richard nicht gewußt, daß Zedd ein Zauberer war. Jeder kannte ihn einfach nur als Zedd, den Wolkendeuter, einen Mann von bemerkenswertem Wissen über die gewöhnlichsten und außergewöhnlichsten Dinge — über seltene Kräuter und die Krankheiten der Menschen, über die Heilkunst und die Orte, von denen die Regenwolken kamen, wo man einen Brunnen grub oder wann man mit dem Ausheben eines Grabes begann — und er wußte über Geburten Bescheid.
Richard kannte Elayne. Sie hatte ihm das Tanzen beigebracht, damit er beim Mittsommernachtsfest ein Mädchen auffordern konnte. Richard hatte es lernen wollen, bis er sich plötzlich der Aussicht gegenübersah, tatsächlich eine Frau in den Armen zu halten. Er hatte Angst, er könnte sie zerbrechen oder ähnliches, er wußte nicht genau, was — jedenfalls meinten alle ständig, er sei stark und müsse achtgeben, niemanden zu verletzen. Als er dann seine Meinung änderte und sich entschuldigen wollte, hatte Elayne gelacht, ihn mit ihren Armen hochgehoben und herumgewirbelt und dazu eine fröhliche Melodie gesummt.
Richard wußte nicht viel darüber, wie man Kinder zur Welt brachte, aber nach allem, was er gehört hatte, hegte er nicht den geringsten Wunsch, Elaynes Haus auch nur nahe zu kommen, solange die Geburt andauerte. Er ging zur Tür in der Absicht, einen Spaziergang zu machen, der ihn von allem Ärger fernhalten sollte.
Zedd schnappte sich seine Tasche mit Kräutern und Tränken, packte Richard am Ärmel und sagte, »Komm mit, mein Junge. Kann sein, daß ich dich brauche.«
Richard bestand hartnäckig darauf, er könne unmöglich eine Hilfe sein, doch wenn Zedd sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, wirkte Granit im Vergleich dazu weich. Zedd bugsierte ihn zur Tür und meinte: »Man kann nie wissen, Richard, vielleicht lernst du sogar etwas.«
Elaynes Mann, Henry, war unterwegs, um mit einer Gruppe von Männern Eis für die Gasthäuser zu schlagen, und war wegen des Wetters noch nicht aus den umliegenden Ortschaften zurück. Im Haus befanden sich mehrere Frauen, doch sie waren alle drinnen bei Elayne. Zedd erklärte Richard, er solle sich nützlich machen, sich um das Feuer kümmern und ein wenig Wasser erhitzen. Es würde wohl eine Weile dauern.
Richard saß in der kalten Küche, der Schweiß lief ihm die Kopfhaut runter, während er die entsetzlichsten Schreie hörte, die er je vernommen hatte. Man hörte auch gedämpfte, tröstende Worte von der Hebamme und den anderen Frauen, doch hauptsächlich waren da diese Schreie. Er schürte das Feuer, schmolz Schnee in einem großen Kessel, damit er eine Entschuldigung hatte, nach draußen zu gehen. Er redete sich ein, Elayne und Henry brauchten mehr Holz, jetzt, da sie das Kind hatten, also schlug er einen Haufen von beträchtlicher Größe. Es nützte nichts. Er konnte Elaynes Schreie noch immer hören. Es war weniger die Art, wie sie die Schmerzen ausdrückten, sondern eher die Panik, die sich darin offenbarte, und die Richards Herz zum Klopfen brachte.
Richard wußte, Elayne würde sterben. Keine Hebamme wäre zu Zedd gekommen, hätte es nicht ernsthafte Schwierigkeiten gegeben. Richard hatte noch nie einen Toten gesehen, er wollte nicht, daß Elayne der erste war. Er mußte an ihr Lachen denken, als sie ihm das Tanzen beibrachte. Sein Gesicht war die ganze Zeit über hochrot gewesen, doch sie hatte getan, als bemerkte sie nichts.
Und dann, während er am Tisch saß und in die Ferne starrte, überzeugt, daß die Welt ein wahrhaft fürchterlicher Ort sei, ertönte ein letzter Schrei, quälender als alle anderen, und es lief ihm kalt den Rücken hinunter. Der Schrei erstarb, und zurück blieb hoffnungsloses Elend. Er preßte die Augen zu in der nichtendenwollenden Stille, hielt seine Tränen zurück.
Ein Grab in dem gefrorenen Boden auszuheben würde fast unmöglich sein, doch er versprach sich selbst, es für Elayne zu tun. Er wollte nicht, daß man den gefrorenen Leichnam in der Hütte des Bestatters bis zum Frühling aufbewahrte. Er war stark. Er würde es tun, und wenn er einen Monat dafür brauchte. Sie hatte ihm das Tanzen beigebracht.
Die Tür zum Schlafzimmer öffnete sich mit einem kreischenden Geräusch, und Zedd kam herausgeschlurft, hatte etwas im Arm. »Komm her, Richard.« Er drückte ihm ein blutverschmiertes Etwas mit Ärmchen und Beinchen dran in die Hand. »Wasch ihn vorsichtig.«
»Was? Wie soll ich das denn machen?« stammelte Richard.
»Mit warmem Wasser!« blaffte Zedd ihn an. »Verdammt, Junge, du hast doch Wasser aufgesetzt, oder?« Richard deutete mit dem Kinn darauf. »Nicht zu heiß. Nur lauwarm. Dann wickle ihn in diese Decke hier und bring ihn zurück ins Schlafzimmer.«
»Aber Zedd … die Frauen. Das ist doch deren Aufgabe. Nicht meine! Bei den Seelen, können denn die Frauen das nicht machen?«