Auf jeder Seite waren ein paar Stücke herausgebissen worden. Die Bisse auf der einen Seite wiesen am Rand unregelmäßige Einrisse auf, wie größere Zähne sie hinterlassen, auf der anderen fanden sich die eines kleinen, regelmäßigen Gebisses.
Brogan wirbelte heulend vor Wut herum und schlug Lunetta mit dem Handrücken durchs Gesicht. Sie stürzte krachend neben der Feuerstelle an die Wand und glitt zu Boden.
»Daran bist du schuld, streganicha! Das ist deine Schuld. Du hättest hierbleiben und Ettore überwachen müssen!«
Brogan stand da, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und starrte wuterfüllt die gehäutete Leiche des Mannes vom Lebensborn aus dem Schoß der Kirche an. Wäre Ettore nicht tot, Brogan hätte ihn eigenhändig umgebracht, wenn nötig mit den bloßen Händen, dafür, daß er diese alte Hexe der Gerechtigkeit hatte entgehen lassen. Einen Verderbten entkommen zu lassen, war nicht zu entschuldigen. Ein wahrer Jäger der Verderbten hätte die gottlose Person vor seinem Tod noch umgebracht, egal wie. Ettores spöttisches Grinsen brachte ihn noch mehr in Rage.
Brogan schlug in das erkaltete Gesicht. »Du hast uns im Stich gelassen, Ettore. Du wirst unehrenhaft aus dem Lebensborn entlassen. Dein Name wird aus dem Verzeichnis gelöscht.«
Lunetta kauerte an der Wand und hielt sich die blutverschmierte Wange. »Ich hab’ es Euch ja gesagt, ich hätte bleiben und ihn überwachen sollen. Ich hab’ es Euch gesagt.«
Brogan funkelte sie wütend an. »Komm mir nicht mit deinen dreckigen Ausflüchten, streganicha. Wenn du gewußt hast, wieviel Ärger die alte Hexe machen würde, dann hättest du hierbleiben müssen.«
»Aber das habe ich Euch doch gesagt.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ihr habt mich gezwungen, Euch zu begleiten.«
Er hörte nicht auf sie und wandte sich an seinen Colonel. »Holt die Pferde«, zischte er zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor.
Er sollte sie umbringen. Gleich jetzt. Er sollte ihr die Kehle aufschlitzen, dann hätte er es hinter sich. Er war ihre abscheuliche Gabe leid. Diese Nacht hatte ihn wertvolle Informationen gekostet. Wäre seine verabscheuungswürdige Schwester nicht gewesen, er hätte sie bekommen.
»Wie viele Pferde, Lord General?« fragte Galtero leise.
Brogan beobachtete, wie seine Schwester mühsam auf die Beine kam und ihre Haltung wiederfand, während sie sich das Blut von der Wange wischte. Er solle sie umbringen. Gleich jetzt, in diesem Augenblick.
»Drei«, knurrte Brogan.
Galtero entnahm den Werkzeugen zur Befragung einen Knüppel, dann glitt er geräuschlos wie ein Schatten durch die Tür und war im Gang verschwunden. Offenbar hatten die Wachen sie nicht gesehen, auch wenn das bei Verderbten nicht unbedingt etwas heißen mußte. Trotzdem konnte die Alte durchaus noch immer in der Nähe sein. Man brauchte Galtero nicht zu erklären, daß sie lebend gefaßt werden mußte, falls man sie fand.
Vorschnelle Rache mit dem Schwert brachte ihnen nichts ein. Wenn man sie entdeckte, würde man sie lebend fassen und befragen. Wenn man sie entdeckte, würden sie den Preis für ihre Ruchlosigkeit bezahlen, aber vorher würde sie alles erzählen, was sie wußte.
Wenn man sie entdeckte. Er sah zu seiner Schwester hinüber. »Siehst du sie hier irgendwo in der Nähe?«
Lunetta schüttelte den Kopf. Sie kratzte nicht an ihren Armen herum. Auch wenn keine tausend d’Haranische Soldaten den Palast umstellt hätten, in diesem Sturm war es unmöglich, jemanden zu verfolgen. Außerdem, sosehr er die Alte auch zu fassen kriegen wollte, Brogan hatte ein ruchloseres Opfer, daß es zu verfolgen galt. Zudem war da auch noch Lord Rahl. Falls Galtero die alte Frau fand, gut, falls nicht, dann hätten sie ohnehin keine Zeit für eine schwierige und höchstwahrscheinlich erfolglose Verfolgungsjagd. Verderbte waren alles andere als eine Rarität, es gab immer noch andere. Der Lord General des Lebensborns aus dem Schoß der Kirche mußte sich um wichtigere Dinge kümmern: das Werk des Schöpfers.
Lunetta humpelte zu Brogan und legte einen Arm um seine Hüfte. Sie streichelte seine auf- und abschwellende Brust.
»Es ist spät, Tobias«, gurrte sie vertraulich. »Kommt zu Bett. Ihr hattet einen schweren Tag, das Werk des Schöpfers zu erledigen. Lunetta wird dafür sorgen, daß Ihr Euch besser fühlt. Ihr werdet zufrieden sein, das verspreche ich.« Er schwieg. »Galtero hatte sein Vergnügen, Lunetta wird für das Eure sorgen. Ich werde einen Zauber für Euch bewirken«, bot sie ihm an. »Bitte, Tobias?«
Er zog ihr Angebot einen Augenblick lang in Betracht. »Keine Zeit. Wir müssen sofort aufbrechen. Hoffentlich hast du heute nacht etwas gelernt, Lunetta. Ich lasse nicht zu, daß du dich noch einmal schlecht benimmst.«
Ihr Kopf zuckte auf und ab. »Ja, mein Lord General. Ich werde mich bessern, ganz bestimmt. Ich werde mich bessern. Ihr werdet sehen.«
Er führte sie nach oben in das Zimmer, in dem er die Zeugen vernommen hatte. Vor der Tür standen Wachen. Drinnen nahm er sein Trophäenkästchen von dem langen Tisch und schnallte es an seinen Gürtel. Er wollte schon zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. Die Silbermünze, die die Alte ihm gegeben hatte und die er hatte auf dem Tisch liegenlassen, war verschwunden. Er sah zu einem der Posten.
»Hat heute abend jemand diesen Raum betreten, nachdem ich gegangen bin?«
»Nein, Lord General«, erwiderte der Posten steif. »Keine Menschenseele.«
Brogan brummte in sich hinein. Sie war hier gewesen. Sie hatte ihre Münze wieder an sich genommen, um ihm damit eine Nachricht zu hinterlassen. Er machte sich auf dem Weg nach draußen gar nicht erst die Mühe, einen der anderen Posten zu befragen. Die hatten sicher auch nichts gesehen. Die Alte und ihre kleine Vertraute waren verschwunden. Er verbannte sie aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf das, was getan werden mußte.
Brogan machte sich auf den Weg in den hinteren Teil des Palastes, von wo aus es nur ein kurzes Stück über freies Gelände bis hin zu den Stallungen war. Galtero wußte, was sie für die Reise benötigten, er würde die Sachen zusammensuchen und drei Pferde satteln lassen. Bestimmt waren überall im Palast D’Haraner, doch in der Dunkelheit und bei diesem Schneegestöber würde er mit Lunetta ungehindert bis zu den Stallungen durchkommen.
Zu den Männern sagte Brogan nichts. Wenn er die Mutter Konfessor verfolgen wollte, dann ging das nur zu dritt. Drei konnten bei diesem Sturm vielleicht hinausschleichen, aber sicher nicht der gesamte Verband. Eine so große Zahl von Soldaten würde mit Sicherheit bemerkt und angehalten werden. Es würde zum Kampf kommen, und wahrscheinlich würden alle den Tod finden. Der Lebensborn verfügte über wildentschlossene Kämpfer, der Überzahl der D’Haraner wären sie jedoch nicht gewachsen. Schlimmer, seinen Beobachtungen zufolge war auch den D’Haranern das Kämpfen alles andere als fremd. Besser, sie ließen die Männer einfach als Ablenkung zurück. Was sie nicht wußten, konnten sie auch nicht verraten.
Brogan öffnete die schwere Eichentür einen Spalt weit und spähte hinaus in die Nacht. Er sah nichts als Schneegestöber, erleuchtet von dem schwachen Lichtschein, der durch ein paar Fenster im zweiten Stock nach draußen fiel. Er hätte die Lampen gelöscht, doch er brauchte das wenige Licht, das sie spendeten, um die ihm unbekannten Stallungen im Sturm zu finden.
»Bleib dicht bei mir. Wenn uns Soldaten anhalten, werden sie versuchen, uns am Fortreiten zu hindern. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen der Mutter Konfessor hinterher.«
»Aber Lord General —«
»Sei still«, fuhr Brogan sie an. »Sorge lieber dafür, daß wir durchkommen, wenn sie uns aufhalten wollen. Verstanden?«
»Wenn es viele sind, kann ich nur —«
»Fordere mich nicht heraus, Lunetta. Du hast Besserung gelobt. Jetzt gebe ich dir die Chance. Enttäusche mich nicht noch einmal.«
Sie raffte ihre hübschen Stoffe fest um ihren Körper. »Ja, Lord General.«
Brogan blies die Lampe drinnen in der Eingangshalle aus, dann zerrte er Lunetta hinaus in den Schneesturm, stapfte mit ihr durch die Verwehungen. Galtero müßte die Pferde inzwischen gesattelt haben. Sie brauchten es bloß bis zu ihm zu schaffen. Bei diesem Schnee würden die D’Haraner sie weder kommen sehen noch aufhalten können, wenn sie erst einmal auf ihren Pferden saßen. Die dunklen Stallungen kamen näher.