Plötzlich tauchten Schatten aus dem Schnee auf — Soldaten. Als sie ihn sahen, riefen sie ihren Kameraden etwas zu und zogen gleichzeitig ihren Stahl blank. Ihre Stimmen trugen im heulenden Wind nicht weit, aber weit genug, um eine Schar kräftiger Männer herbeizuholen.
Sie waren überall. »Lunetta, tu etwas.«
Sie hob einen Arm, die Finger zu einer Kralle gebogen, und begann, einen Zauber heraufzubeschwören, doch die Soldaten zögerten nicht. Sie stürmten mit erhobenen Waffen vor. Er zuckte zusammen, als ein Pfeil an seiner Wange vorbeisirrte. Der Schöpfer hatte eine Windbö geschickt, auf daß der Pfeil sein Ziel verfehlte und ihn verschonte. Lunetta duckte sich vor den Pfeilen.
Als er sah, daß die Soldaten von allen Seiten auf ihn zukamen, zog Tobias das Schwert. Er spielte mit dem Gedanken, sich zurück zum Palast durchzuschlagen, aber auch dieser Weg war versperrt. Es waren zu viele. Lunetta war so sehr damit beschäftigt, die Pfeile abzuwehren, daß sie keinen Zauber heraufbeschwören konnte, um ihnen zu helfen. Sie schrie vor Angst laut auf.
Ebenso plötzlich, wie der Pfeilhagel begonnen hatte, hörte er auf. Tobias hörte Rufe, die vom Wind davongetragen wurden. Er packte Lunetta am Arm, sprang durch die tiefen Verwehungen und hoffte, die Stallungen zu erreichen. Sicher wartete Galtero dort.
Mehrere Soldaten versuchten, ihm den Weg zu verstellen. Der, der ihm am nächsten war, schrie auf, als ein Schatten vor ihm vorüberhuschte. Der Mann stürzte mit dem Gesicht voran in den Schnee. Verwirrt beobachtete Tobias, wie die anderen Männer mit ihren Schwertern auf Windböen eindroschen.
Der Wind streckte sie erbarmungslos nieder.
Tobias blieb stolpernd stehen, konnte nicht fassen, was er sah. Ringsum gingen D’Haraner zu Boden. Schreie wurden laut im heulenden Wind. Er sah, wie der Schnee sich rot färbte. Er sah Männer, die in ihren Fußstapfen niedersanken, während ihnen die Eingeweide aus dem Leib quollen.
Tobias fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, rührte sich nicht, aus Angst, der Wind könnte auch ihn niederstrecken. Sein Blick zuckte in alle Richtungen, während er versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was hier geschah, und die Angreifer zu erkennen.
»Beim Schöpfer«, rief er laut, »verschone mich! Ich tue doch dein Werk!«
Männer strömten aus allen Richtungen in den Hof vor den Stallungen und wurden ebenso schnell niedergestreckt, wie sie eintrafen. Gut über hundert Leichen übersäten bereits das verschneite Schlachtfeld. Noch nie hatte er gesehen, daß Männer in solcher Geschwindigkeit mit solcher Brutalität erschlagen wurden.
Tobias ging in die Hocke und mußte zu seinem Entsetzen feststellen, daß die wirbelnden Böen sich voller Absicht bewegten.
Sie waren lebendig. Jetzt konnte er sie allmählich erkennen. Männer mit weißen Capes umschwebten ihn zu allen Seiten und attackierten die d’Haranischen Soldaten mit todbringender Schnelligkeit. Nicht einer der d’Haranischen Soldaten versuchte zu fliehen, sie alle griffen voller Ingrimm an, doch keinem einzigen gelang es, mit dem Feind die Klingen zu kreuzen, ehe er blitzschnell abgefertigt wurde.
Die Nacht wurde still bis auf den Wind. Es blieb nicht einmal Zeit, davonzurennen, da war alles bereits vorbei. Der Boden war mit reglosen, dunklen Gestalten übersät. Tobias drehte sie alle um, aber es lebte niemand mehr. Schon begann der Schnee über die Leichen zu wehen. Noch eine Stunde, und sie wären in diesem weißen Gestöber verschwunden.
Die Männer in den Capes glitten fließend durch den Schnee, sie bewegten sich elegant und geschmeidig, als wären sie aus Wind. Als sie auf ihn zukamen, entglitt das Schwert seinen gefühllosen Fingern. Tobias wollte Lunetta zurufen, sie solle sie mit einem Bann niederstrecken, aber als sie ins Licht kamen, versagte ihm die Stimme.
Es waren keine Männer.
Schuppen in der Farbe der verschneiten Nacht glänzten wellenförmig über dem Spiel der Muskeln. Glatte Haut überzog ohrenlose, haarlose plumpe Schädel mit kleinen, runden, funkelnden Augen. Die Bestien trugen nur einfache Fellkleidung unter ihren Capes, welche sich im Wind blähten und flatterten, und mit jeder krallenbesetzten Hand hielten sie blutverschmierte, dreiklingige Messer umklammert.
Es waren dieselben Kreaturen, die er draußen vor dem Palast der Konfessoren auf den Pfählen gesehen hatte — die Kreaturen, die Lord Rahl getötet hatte: Mriswiths. Jetzt, wo er gesehen hatte, wie sie diese erfahrenen Soldaten erschlagen hatten, konnte Tobias sich nicht vorstellen, daß Lord Rahl oder sonst irgend jemand auch nur einen einzigen von ihnen besiegt hatte, erst recht nicht die große Zahl, die er gesehen hatte.
Eine der Kreaturen kam auf ihn zugeschlichen und betrachtete ihn mit ungerührten Augen. Sie kam gleitend zum Stehen, keine drei Meter entfernt.
»Versssschwinde«, zischelte der Mriswith.
»Was?« stammelte Tobias.
»Verssschwinde.« Ein krallenartiges Messer sirrte durch die Luft, eine blitzschnelle Geste, elegant und von tödlicher Meisterschaft. »Fliehe.«
»Warum? Warum tut ihr das? Wieso wollt ihr, daß wir fliehen?«
Der lippenlose Mundschlitz weitete sich zu einem schauerlichen Grinsen. »Der Traumwandler will, dassss ihr flieht. Geht jetzzzzt, bevor noch weitere Hautwandler kommen. Geht.«
»Aber…«
Mit seinem schuppigen Arm raffte der Mriswith sein Cape zum Schutz gegen den Wind zusammen, machte kehrt und verschwand im Schneegestöber. Tobias starrte hinaus in die Nacht, doch der Wind war leer und ohne Leben.
Warum sollte ihm ein solch abscheuliches Geschöpf helfen wollen? Wieso sollten sie seine Feinde töten? Warum wollten sie, daß er floh?
Dann überkam ihn die Erkenntnis in einer plötzlichen Anwandlung von Liebe und Wärme. Der Schöpfer hatte sie geschickt. Natürlich. Wie hatte er nur so blind sein können? Lord Rahl hatte erzählt, er habe die Mriswiths getötet. Lord Rahl kämpfte für den Hüter. Wären die Mriswiths bösartige Geschöpfe, würde Lord Rahl auf ihrer Seite kämpfen, nicht gegen sie.
Die Mriswiths hatten gesagt, der Traumwandler habe sie geschickt. Aber im Traum erschien Tobias der Schöpfer. Das mußte es sein: der Schöpfer hatte sie geschickt.
»Lunetta.« Tobias drehte sich zu ihr um. Sie kauerte hinter ihm. »Der Schöpfer erscheint mir in meinen Träumen. Das wollten sie mir sagen, als sie meinten, jemand aus meinen Träumen habe sie geschickt. Lunetta, der Schöpfer hat sie geschickt, weil sie helfen sollen, mich zu beschützen.«
Lunetta machte große Augen. »Der Schöpfer selbst hat Euch zuliebe eingegriffen, um die Pläne des Hüters zu durchkreuzen. Der Schöpfer höchstpersönlich wacht über Euch. Er muß Großes mit Euch vorhaben, Tobias.«
Tobias holte sein Schwert unter dem Schnee hervor und richtete sich lächelnd auf. »Fürwahr. Ich habe Seinen Willen höher gehalten als alles andere, also hat Er mich beschützt. Beeil dich. Ich muß tun, was Seine Boten mir aufgetragen haben. Wir müssen aufbrechen und das Werk des Schöpfers vollbringen.«
Während er durch den Schnee stapfte und sich einen gewundenen Pfad zwischen den Leichen hindurch bahnte, hob er den Kopf und sah, wie plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihn sprang und ihm den Weg versperrte.
»Sieh an, Lord General, Ihr wollt fort?« Ein bedrohliches Grinsen erschien auf dem Gesicht. »Willst du mich verzaubern, Magierin?«
Tobias hielt sein Schwert noch immer in der Hand, aber wußte, er würde nicht schnell genug sein.
Er erschrak, als er das markerschütternde, dumpfe Geräusch hörte. Der Kerl, der vor ihm stand, kippte mit dem Gesicht voran in den Schnee zu seinen Füßen. Tobias sah auf und erblickte Galtero, der mit dem Knüppel über der bewußtlosen Gestalt stand.
»Galtero, heute nacht habt Ihr Euch Euren Rang verdient.«