Gerade eben hatte der Schöpfer ihn mit einem Preis von unschätzbarem Wert belohnt und ihm gezeigt, daß dem Frommen nichts unerreichbar war. Dankenswerterweise hatte Galtero die Geistesgegenwart besessen, den Knüppel und nicht die Klinge zu benutzen.
Er sah das Blut von dem Schlag, aber er sah auch den Lebenshauch des Mannes. »Oh, oh, das wird eine gute Nacht. Lunetta, bevor du diesen Mann hier heilst, hast du noch etwas im Auftrag des Schöpfers zu erledigen.«
Lunetta beugte sich über die reglose Gestalt, drückte ihre Finger in das blutig verfilzte, braune, wellige Haar. »Vielleicht sollte ich zuerst die Heilung vornehmen. Galtero ist kräftiger, als er denkt.«
»Das, meine liebe Schwester, wäre nicht ratsam, wenigstens nicht nach dem, was ich gehört habe. Die Heilung kann warten.« Er sah zu seinem Colonel hinüber und deutete auf die Stallungen. »Sind die Pferde bereit?«
»Ja, Lord General. Wenn Ihr es seid.«
Tobias zog das Messer, das Galtero ihm gegeben hatte. »Wir müssen uns beeilen, Lunetta. Der Bote meinte, wir müßten fliehen.« Er hockte sich nieder und wälzte die bewußtlose Gestalt herum. »Und dann reiten wir los, der Mutter Konfessor hinterher.«
Lunetta beugte sich zu ihm vor, sah ihn an. »Aber Lord General, ich sagte Euch doch schon, das Netz des Zauberers verbirgt ihre Identität vor uns. Wir können die Fäden eines solchen Netzes nicht sehen. Wir werden sie nicht erkennen.«
Ein Grinsen spannte die Narbe neben Tobias’ Mund.
»Oh, aber ich habe die Fäden des Netzes bereits gesehen. Der Name der Mutter Konfessor lautet Kahlan Amnell.«
18
Wie sie befürchtet hatte, war sie eine Gefangene. Sie blätterte eine weitere Seite um, nachdem sie die entsprechende Eintragung im Hauptbuch vorgenommen hatte. Eine Gefangene in allerhöchster Stellung, eine Gefangene hinter einem Schloß aus Papier, nichtsdestotrotz eine Gefangene.
Verna überflog gähnend die nächste Seite und überprüfte die Belege für die Ausgaben des Palastes. Jeder Beleg mußte von ihr gebilligt und als Beweis dafür, daß die Prälatin die Ausgaben persönlich bestätigt hatte, abgezeichnet werden. Warum dies nötig war, blieb ihr ein Rätsel. Aber sie war erst ein paar Tage im Amt, und es widerstrebte ihr, dies als Verschwendung ihrer Zeit zu bezeichnen, nur damit Schwester Leoma oder Dulcinia wieder die Augen abwendeten und ihr, um die Prälatin nicht in Verlegenheit zu bringen, im Flüsterton erklärten, warum dies sehr wohl erforderlich sei, um dann fortzufahren und ihr in allen Einzelheiten die entsetzlichen Folgen darzulegen, die es nach sich zog, wenn man eine solch einfache Sache unterließ, die sie kaum Mühe kostete, die für andere dagegen von solchem Nutzen war.
Sie ahnte schon, was passieren würde, wenn sie erklärte, sie werde sich nicht die Mühe machen, die Rechnungslisten zu überprüfen: Aber Prälatin, wenn die Menschen nicht befürchten müßten, daß die Prälatin ihre Aufträge persönlich überprüft, würden sie ermutigt werden, den Palast zu übervorteilen. Man würde die Schwestern für verschwenderische Närrinnen ohne einen Funken Verstand halten. Würden die Aufträge andererseits nicht gemäß der Anweisungen der Prälatin bezahlt, müßten die Familien der armen Arbeiter hungern. Ihr wollt doch sicher nicht, daß diese Kinder hungern, oder? Nur weil Ihr diesen Leuten nicht die Höflichkeit erweisen wollt, sie für eine Arbeit zu bezahlen, die sie bereits geleistet haben. Und das bloß, weil Ihr keinen Blick in die Belege werfen und Euch nicht die Mühe machen wollt, sie abzuzeichnen? Wollt Ihr wirklich, daß sie die Prälatin für so hartherzig halten?
Seufzend überflog Verna die Ausgabenbelege für die Stallungen: Heu und Getreide, der Schmied, Pflege des Zaumzeugs, Ersatz für verlorengegangenes Zaumzeug, die Stallreparatur, nachdem ein Hengst eine Stallwand eingetreten hatte, die Reparatur, die erforderlich geworden war, nachdem mehrere Pferde offenbar des Nachts in Panik geraten waren, einen Zaun niedergerissen hatten und hinaus aufs Land geflohen waren. Sie mußte mit dem Stallpersonal ein ernstes Wort reden und darauf bestehen, daß sie unter ihrem Dach bessere Ordnung hielten. Sie tauchte die Feder in das Tintenfaß, seufzte abermals, und setzte ihr Zeichen an den unteren Rand der Seite.
Während sie die Stallrechnungen auf dem Stapel der anderen, bereits durchgesehenen Rechnungen ablegte und ins Hauptbuch eintrug, klopfte jemand leise an die Tür. Sie zog ein weiteres Blatt von dem Stapel mit Belegen, die noch bearbeitet werden mußten — eine längere Abrechnung des Metzgers —, und machte sich daran, die Zahlenkolonnen zu überfliegen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie kostspielig es war, den Palast der Propheten zu unterhalten.
Wieder klopfte es leise. Wahrscheinlich Schwester Dulcinia oder Schwester Phoebe, die ihr einen weiteren Stapel mit Belegen brachten. Sie schafften sie schneller heran, als sie sie abzeichnen konnte. Wie hatte Prälatin Annalina das alles nur bewältigt? Verna hoffte, daß es nicht wieder Schwester Leoma war, die ihr Augenmerk auf irgendeine Katastrophe lenken wollte, welche die Prälatin durch eine unbedachte Handlung oder einen unbedachten Kommentar verursacht hatte. Vielleicht hielten sie sie für zu beschäftigt und gingen wieder, wenn sie nicht antwortete.
Verna hatte Schwester Dulcinia zusammen mit ihrer alten Freundin Phoebe zu ihren Verwalterinnen ernannt. Es war nur sinnvoll, auf Schwester Dulcinias Erfahrung zurückgreifen zu können.
Außerdem bot sich Schwester Verna dadurch die Möglichkeit, ein Auge auf die Frauen zu halten. Schwester Dulcinia hatte selbst um den Posten gebeten und sich auf ihr ›Wissen um die Geschäfte des Palastes‹ berufen.
Die Schwestern Leoma und Philippa als ›vertraute Beraterinnen‹ zu haben, war zumindest insofern nützlich, als sie dadurch auch sie im Auge behalten konnte. Sie traute ihnen nicht. Was das anbetraf, traute sie keiner von ihnen, das durfte sie sich nicht erlauben. Verna mußte allerdings zugeben, daß sie sich als gute Beraterinnen erwiesen hatten, die gewissenhaft darauf achteten, ihren Rat zum Wohl der Prälatin und des Palastes einzubringen. Es verwirrte Verna, daß an ihren Ratschlägen nichts zu bemängeln war.
Wieder klopfte es, höflich aber hartnäckig.
»Ja! Was gibt’s?«
Die mächtige Tür ging weit genug auf, damit Warren seinen blonden Lockenkopf hereinschieben konnte. Er schmunzelte, als er ihre finstere Miene bemerkte. Verna sah hinter ihm Dulcinia, die sich den Hals verrenkte, um an ihm vorbeizuschauen und festzustellen, wie die Prälatin mit ihren Papierstapeln vorankam. Warren trat endlich ein.
Er sah sich in dem nüchternen Zimmer um und betrachtete prüfend die Arbeit, die man darauf verwendet hatte. Nach dem verlorenen Kampf ihrer Vorgängerin mit den Schwestern der Finsternis war das Zimmer ein Trümmerhaufen gewesen. Ein Handwerkertrupp hatte es eilig renoviert und es so schnell wie möglich wieder in Ordnung gebracht, damit die neue Prälatin nicht lange in ihrer Arbeit behindert wurde. Verna kannte die Kosten, sie hatte die Rechnung gesehen.
Warren schlenderte an den schweren Schreibtisch aus Walnußholz heran. »Guten Abend, Verna. Ihr scheint hart zu arbeiten. Wichtige Palastgeschäfte, nehme ich an, wenn Ihr so spät noch auf seid.«
Sie preßte ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Ehe sie dazu kam, eine Schimpfkanonade loszulassen, ergriff Dulcinia die Gelegenheit, den Kopf zur Tür hereinzustecken, bevor sie sich hinter dem Besucher wieder schloß.
»Ich bin gerade mit den Belegen des heutigen Tages fertig geworden, Prälatin. Wollt Ihr sie jetzt haben? Mit den anderen müßtet Ihr fast durch sein.«
Verna ließ kurz ein schurkisches Grinsen sehen, dann winkte sie ihre Gehilfin mit gekrümmtem Finger zu sich. Schwester Dulcinia zuckte zusammen, als sie das spöttische Grinsen sah. Ihre durchdringenden blauen Augen wanderten durchs Zimmer, verweilten kurz auf Warren, dann kam sie herein und strich sich ihr graues Haar in einer unterwürfigen Geste zurück.
»Kann ich Euch vielleicht behilflich sein, Prälatin?«