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Verna faltete die Hände auf dem Tisch. »Aber ja, Schwester, das kannst du. Deine Erfahrung wäre in dieser Angelegenheit wertvoll.« Verna nahm einen Ausgabenbeleg vom Stapel. »Ich möchte, daß du sofort mit einem Auftrag in die Stallungen gehst. Offenbar gibt es dort Probleme und einen rätselhaften Vorfall.«

Schwester Dulcinias Miene hellte auf. »Probleme, Prälatin?«

»Ganz recht. Es sieht ganz so aus, als fehlten ein paar Pferde.«

Schwester Dulcinia beugte sich vor und senkte ihre Stimme in der für sie typischen duldsamen Art. »Wenn ich mich recht an den Beleg erinnerte, von dem Ihr sprecht, Prälatin, dann hat irgendwas die Pferde nachts erschreckt, und sie sind ausgerissen. Sie sind einfach noch nicht wieder aufgetaucht, das ist alles.«

»Das weiß ich, Schwester. Aber Meister Finch möchte doch bitte erklären, wie es kommt, daß man Pferde, die einen Zaun niedergerissen haben und davonlaufen konnten, nicht wiederfindet.«

»Prälatin?«

Verna zog die Brauen in gespielter Verwunderung hoch. »Wir leben auf einer Insel, oder täusche ich mich da? Wie kommt es, daß die Pferde nicht mehr auf der Insel sind? Kein Posten hat sie über eine Brücke galoppieren sehen. Wenigstens habe ich darüber keinen Bericht zu Gesicht bekommen. Zu dieser Jahreszeit sind die Fischer Tag und Nacht draußen auf dem Fluß und fangen Aale, trotzdem hat niemand Pferde zum Festland schwimmen sehen. Wo sind sie also?«

»Nun, ich bin sicher, sie sind einfach fortgelaufen, Prälatin. Vielleicht…«

Verna lächelte nachsichtig. »Vielleicht hat Meister Finch sie verkauft und nur behauptet, sie seien fortgelaufen.«

Schwester Dulcinia richtete sich auf. »Aber Prälatin, Ihr wollt doch gewiß niemand beschuldigen —«

Verna schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang auf. »Zaumzeug ist ebenfalls verschwunden. Ist das Zaumzeug auch des Nachts davongelaufen? Oder haben die Pferde vielleicht beschlossen, es sich selbst anzulegen und einen kleinen Ausflug zu machen?«

Schwester Dulcinia wurde blaß. »Ich … also, ich … Ich werde…«

»Du wirst jetzt augenblicklich zu den Ställen hinübergehen und Meister Finch mitteilen, daß er, wenn er die Pferde nicht gefunden hat, bis ich beschließe, die Angelegenheit erneut zu prüfen, ihren Preis von seinem Lohn und das Zaumzeug mit seiner Haut bezahlen wird.«

Schwester Dulcinia verbeugte sich rasch und eilte aus dem Zimmer. Als die Tür sich mit einem Knall schloß, lachte Warren stillvergnügt in sich hinein.

»Sieht so aus, als hättet Ihr Euch sehr schnell eingewöhnt, Verna.«

»Fang du nicht auch noch an, Warren!«

Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht. »Beruhigt Euch, Verna. Es sind doch nur ein paar Pferde. Der Mann wird sie wiederfinden. Es lohnt nicht, daß Ihr deswegen Tränen vergießt.«

Verna blinzelte ihn an. Sie berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen und fühlte, daß sie tatsächlich feucht waren. Mit einem müden Stöhnen ließ sie sich nach hinten in den Sessel sinken.

»Tut mir leid, Warren. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Wahrscheinlich bin ich einfach müde und niedergeschlagen.«

»Verna, so habe ich Euch noch nie gesehen. Ein paar dumme Fetzen Papier versetzen Euch so in Aufregung?«

»Sieh dir das an, Warren!« Sie schnappte sich den Beleg. »Ich sitze hier fest und bin dazu verdammt, die Kosten für den Abtransport von Pferdemist abzuzeichnen! Hast du eine Vorstellung, wieviel Mist diese Pferde erzeugen? Oder wieviel Futter sie fressen, nur um diesen Mist zu produzieren?«

»Na ja, nein. Ich denke, ich muß wohl zugeben, daß…«

Sie zog den nächsten Ausgabebeleg vom Stapel. »Butter —«

»Butter?«

»Ja, Butter.« Verna überflog den Beleg. »Offenbar wurde sie ranzig, und wir mußten zehn Viertelscheffel kaufen, um sie zu ersetzen. Ich soll das prüfen und entscheiden, ob der Milchmann einen angemessenen Preis verlangt und auch in Zukunft in unseren Diensten gehalten werden soll.«

»Es ist bestimmt sinnvoll, diese Angelegenheiten zu überprüfen.«

Verna nahm das nächste Stück Papier zur Hand. »Maurer. Maurer, die das Dach über dem Speisesaal reparieren sollen, dort, wo es leckt. Und Schiefer. Ein Blitz sei in das Schieferdach eingeschlagen, behaupten sie, und nahezu ein ganzes Geviert habe heruntergerissen und ausgetauscht werden müssen. Hat zehn Mann zwei Wochen Arbeit gekostet, heißt es hier. Ich soll entscheiden, ob das angemessen war, und die Zahlung bewilligen.«

»Nun ja, wenn Menschen arbeiten, haben sie doch auch ein Recht, bezahlt zu werden, oder?«

Sie rieb mit dem Finger über den goldenen Ring mit dem Sonnenaufgangssymbol. »Ich dachte, wenn es je in meiner Macht stünde, dann würde sich einiges daran ändern, wie die Schwestern das Werk des Schöpfers verrichten. Aber das ist alles, was ich tue, Warren: ich sehe Belege durch. Ich sitze hier drinnen, Tag und Nacht, und lese die allerweltlichsten Dinge, bis meine Augen glasig werden.«

»Es ist sicherlich sehr wichtig, Verna.«

»Wichtig?« Übertrieben ehrerbietig wählte sie einen weiteren Beleg aus. »Mal sehen … offenbar haben sich zwei unserer ›jungen Männer‹ betrunken und ein Gasthaus in Brand gesteckt … das Feuer wurde gelöscht … das Gasthaus trug beträchtlichen Schaden davon … und man verlangt, daß der Palast den Schaden ersetzt.« Sie legte den Beleg zur Seite … »Ich werde mir die beiden einmal sehr lange und ausführlich vornehmen müssen.«

»Ich glaube, da habt Ihr die richtige Entscheidung getroffen, Verna.«

Sie wählte einen weiteren Beleg aus. »Und was haben wir hier? Die Rechnung einer Näherin. Kleider für die Novizinnen.« Verna nahm den nächsten zur Hand. »Salz. Drei Sorten.«

»Aber Verna —«

Sie zog noch einen heraus. »Und dieser hier?« Sie schwenkte den Zettel mit übertriebener Förmlichkeit. »Das Ausheben von Gräbern.«

»Was?«

»Zwei Totengräber. Sie wollen für ihre Arbeit bezahlt werden.« Sie überflog die Aufstellung. »Und ich möchte hinzufügen, daß sie eine sehr hohe Meinung von ihrem Handwerk haben, nach dem Preis zu urteilen, den sie verlangen.«

»Hört zu Verna, ich glaube, Ihr wart zu lange hier drinnen eingesperrt und braucht ein wenig frische Luft. Warum machen wir nicht einen kleinen Spaziergang?«

»Einen Spaziergang? Warren, ich habe keine Zeit —«

»Prälatin, Ihr habt zu lange hier drinnen gehockt. Ihr braucht ein wenig Bewegung.« Er legte den Kopf schräg und verdrehte die Augen übertrieben in Richtung Tür. »Wie wär’s?«

Verna warf einen Blick auf die Tür. Wenn Schwester Dulcinia tat, was man ihr aufgetragen hatte, dann wäre nur Schwester Phoebe im Vorzimmer. Phoebe war ihre Freundin. Sie ermahnte sich, daß sie niemandem trauen durfte.

»Nun … ich glaube, ein kleiner Spaziergang würde mir ganz gut gefallen.«

Warren kam entschlossenen Schritts um den Schreibtisch herum, ergriff ihren Arm und zog sie hoch. »Oh, gut, also dann. Gehen wir.«

Verna zog ihren Arm aus seinem Griff und warf ihm einen mörderischen Blick zu. Sie biß die Zähne aufeinander und meinte mit einem monotonen Singsang in der Stimme, »Aber ja, warum denn nicht.«

Als die Tür aufging, erhob sich Schwester Phoebe hastig, um sich zu verbeugen. »Prälatin … habt Ihr einen Wunsch? Vielleicht ein wenig Suppe? Etwas Tee?«

»Phoebe, ich habe dir ein dutzendmal erklärt, daß du dich nicht jedesmal verbeugen mußt, wenn du mich siehst.«

Phoebe verbeugte sich erneut. »Jawohl, Prälatin.« Ihr rundliches Gesicht errötete. »Ich wollte sagen … es tut mir leid, Prälatin. Vergebt mir.«

Verna rief sich seufzend zur Geduld. »Schwester Phoebe, wir kennen uns, seit wir Novizinnen waren. Wie oft wurden wir zusammen in die Küche geschickt, um Töpfe zu schrubben, weil wir …?« Verna sah zu Warren. »Also, ich weiß nicht mehr, weshalb, aber ich meine, wir sind doch alte Freundinnen. Bitte, versuche, daran zu denken.«

Phoebe bekam rote Pausbacken und strahlte. »Natürlich … Verna.« Sie erschrak, als sie die Prälatin ›Verna‹ nannte, auch wenn es auf ihren Wunsch geschah.